Gedenkfeier in Hebertshausen:"Weltmeister der Aufarbeitung?" - Von wegen

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Heute erinnert am ehemaligen SS-Schießplatz in Hebertshausen ein großes Mahnmal an die ermordeten Kriegsgefangenen. (Foto: Toni Heigl)

Mehr als 4000 sowjetische Kriegsgefangene hat die SS in Hebertshausen ermordet, ein Gedenkort ist der Schießplatz erst seit wenigen Jahren. Bei der Gedenkfeier zum Überfall auf die Sowjetunion zieht die Historikerin Hera Shokohi eine kritische Bilanz.

Von Walter Gierlich, Hebertshausen

"13 Uhr. Alles ist vorbei!!! Es ist wieder Krieg! Anya Koroleva ist hier, sie erzählte es, sie hat es im Radio gehört. Heute Nacht haben die Deutschen Kyiv, Zhitomir und andere Städte angegriffen. Mein Gott, warum, warum sind sie solche Mistkerle? Jetzt müssen wir jeden Tag auf den Tod warten."

Diese Sätze hat die 15-jährige Irina Peskova am 22. Juni 1941 in ihr Tagebuch geschrieben. Genau 82 Jahre später zitiert Hera Shokohi, Osteuropa-Historikerin an der Universität Bonn, diesen Eintrag am Beginn ihrer Rede. Sie spricht bei der Gedenkfeier für den deutschen Überfall auf die Sowjetunion auf dem ehemaligen SS-Schießplatz Hebertshausen, an dem mehr als 4000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden.

An genau dieser Stelle findet alljährlich die vom Förderverein für internationale Jugendbegegnung veranstaltete Gedenkfeier am Jahrestag des deutschen Einmarsches statt. Trotz brütender Hitze und Gewitterwarnungen sind am Donnerstag etwa 50 Besucher zu dem erst 2014 als Gedenkstätte gestalteten Schreckensort gekommen, darunter die stellvertretende Landrätin Marianne Klaffki (SPD), der Dachauer Zeitgeschichtsreferent Richard Seidl (Grüne) und Hebertshausens Bürgermeister Richard Reischl (CSU).

"Demütigung, Gewalt, Vertreibung und Vernichtung"

"Unbehagen und Widersprüche. Der lange Schatten des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs" hat Shokohi ihren Vortrag genannt. Darin geht sie auch auf das weitgehende Verdrängen dieses von den Nationalsozialisten als "Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus" und für "deutschen Lebensraum" bezeichneten Krieges nach 1945 in der Bundesrepublik ein. "Der Osten Europas und seine Bevölkerungsgruppen sollten vernichtet, kolonisiert und ausgebeutet werden", sagt sie. "Die Menschen, die in deutsch besetzten Gebieten lebten, waren Demütigung, Gewalt, Vertreibung und Vernichtung ausgesetzt." 27 Millionen Sowjetbürger starben, davon 13 Millionen Rotarmisten und 14 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten.

Doch der Vernichtungskrieg habe nicht nur im Osten Europas stattgefunden, sondern auch auf deutschem Boden, wo von 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen von Juni 1941 bis Mai 1945 drei Millionen völkerrechtswidrig umkamen. "Wenn sie nicht ermordet wurden, fielen sie Krankheit, mangelhafter Versorgung oder harter Zwangsarbeit zum Opfer".

Die Historikerin Hera Shokohi. (Foto: Toni Heigl)
Ulrike Mascher und Marriane Klaffki am Mahnmal des ehemaligen SS-Schießplatzes. (Foto: Toni Heigl)
Trotz angekündigten Unwetters kommen auch in diesem Jahr wieder zahlreiche Menschen zur Gedenkfeier. (Foto: Toni Heigl)
Zum Abschluss spielt auch diesmal Trompeter Frank Uttenreuther das "Lied der Moorsoldaten". (Foto: Toni Heigl)

Zu den Ermordeten gehörte der 25 Jahre alte Mustakim Mustafewitsch, der aus Bajbulatow in Baschkorostan stammte, einer mehrheitlich muslimisch geprägten Autonomen Republik der Sowjetunion. Er besuchte ab 1940 die militärpolitische Schule der Komintern in Moskau. Er schloss sie als Politoffizier ab und war für die ideologische Erziehung und Belehrung von Soldaten zuständig. "Mustakim war in Belarus stationiert und wurde dort von der Wehrmacht gefangengenommen. Im Oktober 1941 wurde er hingerichtet", berichtet Shokohi. Zehn solche Biographien von erschossenen Kriegsgefangenen habe die KZ-Gedenkstätte Dachau trotz des Mangels an Quellen dokumentiert, eine Rechercheleistung, die man nach Shokohis Meinung nicht hoch genug schätzen könne.

Doch nicht allein die Kriegsgefangenen, sondern auch "die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie die Opfer des Holocaust durch Massenerschießungen blieben für lange Zeit in Deutschland in Vergessenheit", betont die Historikerin und fährt fort: "Erst 2000, als die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft gegründet wurde, begann die Entschädigung der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, die zuvor von Entschädigungsgesetzen ausgeschlossen wurden. Für die meisten war es zu spät."

Ausgeprägter Antikommunismus

Shokohi sieht eine Ursache für das lange Verdrängen in dem Antikommunismus, der so stark ausgeprägt gewesen sei, "dass jahrzehntelang jeder Aktion, jeder Bemühung, an die sowjetischen Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, Steine in den Weg gelegt wurden. So wollten zum Beispiel 1961 Überlebende des KZ Dachau und ihre Angehörigen ein internationales Treffen organisieren, aber eine antikommunistische Kampagne der bayerischen Presse führte dazu, dass es verschoben werden musste. Man wollte 'ein kommunistisches Treffen in der BRD' verhindern."

Zweifel hegt die Osteuropa-Expertin zudem, dass der Nationalsozialismus hierzulande wirklich aufgearbeitet wurde, "wenn NSDAP-Funktionäre zum Teil noch politische Karriere in der Nachkriegszeit machen konnten und Firmen auf mysteriöse Weise in ihren Geschichtsdarstellungen die Jahre 1933-1945 auslassen".

Und sie hinterfragt die Rolle Deutschlands als "Weltmeister der Aufarbeitung", da sowjetische und osteuropäische Opfer des Nationalsozialismus jahrzehntelang systematisch ignoriert und vernachlässigt wurden: "Kann ein Land, in dem der Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten gegen die Sowjetunion in Schulbüchern in nur wenigen Sätzen abgehandelt wird, das Thema wirklich so gut aufgearbeitet oder bewältigt haben?"

"Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen"

Und mit Blick in die Gegenwart bezweifelt sie, ob wir wirklich aus der Vergangenheit gelernt haben, "wenn Unmenschlichkeit in der geplanten Asylrechtsreform der Europäischen Union tonangebend ist, und Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, unter haftähnlichen Bedingungen in Lagern untergebracht werden sollen".

Shokohi zitiert Theodor W. Adornos Satz, dass die erste Forderung an Erziehung sei, dass sich Auschwitz nicht wiederholen dürfe. Dafür müsse die Sensibilität für rassistische Ideologien und Mechanismen geschärft werden, damit sich ein solches politisches System nie wieder etablieren könne. Dass das längst noch nicht gelungen ist, macht sie am Beispiel der Mordserie von Hanau am 19. Februar 2020 deutlich, als ein Rechtsextremist neun junge Menschen erschoss, deren Namen sie aufzählt. Und sie zitiert den Vater der ermordeten Mercedes Kierpacz: "Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen."

Widerstand ist auch heute notwendig

Geschichte sei kein Heilsversprechen, Erinnerungskultur bringe keine Erlösung und Historiker seien keine Propheten, betont Shokohi, dennoch sei notwendig, was Adorno und der Historiker Reinhard Koselleck vor Jahrzehnten forderten: "Wir brauchen Wissensvermittlung, Erziehung und Aufklärung in so einem Ausmaß, dass rassistische, antisemitische und rechtsextremistische Ideen erkannt und kritisiert werden; und dass man ständig gegen dieses Gedankengut Widerstand leistet."

Die Veranstaltung klingt traditionsgemäß mit dem "Lied der Moorsoldaten" aus, gespielt von Trompeter Frank Uttenreuther. Eine Stunde später entlädt sich das angekündigte Unwetter mit Blitz, Donner und Starkregen.

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