Nationalsozialismus:"Das Geschichtsbewusstsein erodiert"

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Im Max-Mannheimer-Haus diskutieren beim Dachauer Symposium zahlreiche Experten über Geschichtsrevisionismus: Historiker Volker Weiß, die Leiterin der Dachauer Gedenkstätte Gabriele Hammermann, Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Sybille Steinbacher, Zeitgeschichtsprofessorin an der Goethe-Universität in Frankfurt und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts. (Foto: Toni Heigl)

Jeden Tag gibt es durchschnittlich mindestens sieben antisemitische Straftaten in Deutschland. Beim Dachauer Symposium für Zeitgeschichte erforschen Experten heuer den Geschichtsrevisionismus

Von Walter Gierlich, Dachau

Mit einem knappen Satz benannte Jens-Christian Wagner in seinem Einführungsreferat beim diesjährigen Dachauer Symposium für Zeitgeschichte eine der Ursachen dafür, dass es in Deutschland einen Rechtsruck gibt: "Das Geschichtsbewusstsein erodiert." Wagner, Stiftungsdirektor der KZ-Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, war wissenschaftlicher Leiter der Tagung, die den Titel trug: "Rechter Geschichtsrevisionismus in Deutschland: Formen, Felder, Ideologie". In erster Linie ging es dabei an zwei Tagen um Verfälschungen und Verharmlosungen des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen.

Als "extrem aktuell" angesichts der AfD-Wahlergebnisse bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern hatte zuvor Sybille Steinbacher, Zeitgeschichtsprofessorin an der Goethe-Universität in Frankfurt und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts sowie seit 2012 Projektleiterin der Dachauer Symposien, das Thema der diesjährigen Veranstaltung bezeichnet. Denn von Seiten dieser Partei gebe es immer wieder Forderungen nach Änderungen der Erinnerungskultur, "die Angriffe auf die Demokratie sind", sagte sie gleich zu Beginn bei der Begrüßung der etwa 70 Konferenzteilnehmer.

Schuldumkehr und -abwehr bereits seit 1945

Wagner schlug in seinem Einführungsvortrag einen Bogen über den Geschichtsrevisionismus von 1945 bis heute. Bereits im Frühjahr 1945 habe die "Schuldumkehr und Schuldabwehr" begonnen. Dabei bezog er sich auf Aussagen über Luftangriffe der Alliierten, die Vertreibung der Deutschen aus Ostgebieten oder die Zwangsbesichtigungen der Konzentrationslager: "Die Volksgemeinschaft war zur Opfergemeinschaft geworden." Wissenschaftliche Erkenntnisse seien immer mehr durch Mythen und Verfälschungen ersetzt worden bis hin zur sogenannten "Auschwitz-Lüge", nach der es eine millionenfache Ermordung von Juden nicht gegeben habe. "Es geht den Rechten darum, den Nationalsozialismus von Schuld reinzuwaschen", so Wagner.

Eine noch neue Form des Geschichtsrevisionismus zeigte Fabian Virchow aus Düsseldorf: Die Verschwörungserzählungen der Corona-Leugner mit ihrer Verharmlosung und Relativierung des NS-Staates, wobei die Bundesrepublik ebenfalls als Diktatur bezeichnet werde, mit Instrumentalisierung der Shoa-Opfer sowie Dämonisierung der politischen Gegner. Hauptsächlich, so Virchow, bestehe die Szene aus Verschwörungsgläubigen, Esoterikern und Rechtsextremisten, die nach Abflauen der Pandemie nahtlos in Putin-Verteidiger übergegangen sei.

Juden erleben eine "Kontinuität der Unsicherheit"

Online zugeschaltet aus Frankfurt war Julia Bernstein, Expertin für Antisemitismus. Sie berichtete, wie Traumata von jüdischen Verfolgungsopfern über Generationen weiterleben. "Vertreter der Mehrheitsgesellschaft verstehen oft nicht, warum Juden bei bestimmten Ausdrücken überreagieren." Als Beispiele dafür nannte sie Formulierungen wie "Mischehe", "Sonderbehandlung", "der Zug ist abgefahren" oder "an der Rampe stehen". Es gebe für jüdische Menschen in Deutschland, selbst in dritter oder vierter Generation nach der Shoa eine "Kontinuität der Unsicherheit".

Als gewaltförmigen Geschichtsrevisionismus bezeichnete Imanuel Baumann, der Leiter des Memoriums Nürnberger Prozesse, anhand von Beispielen den Rechtsterrorismus, der jahrzehntelang kaum zur Kenntnis genommen worden sei. Die Anfänge des Rechtsterrorismus hat es bereits zu Beginn der Weimarer Republik gegeben. Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit von 1945 bis 1947 gab es Sprengstoffanschläge auf Entnazifizierungskammern. 1979 versuchte ein Rechtsextremist, die Ausstrahlung einer Holocaust-Fernsehserie zu verhindern, indem er die Sendeanlage Koblenz in die Luft sprengte. Und 1980 wurden in Erlangen der jüdische Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin von einem Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann aus antisemitischen Motiven erschossen, so Baumann.

Was Bonhoeffer mit Trump zu tun hat

Mit einer steilen These stieg der online zugeschaltete Publizist und Fernsehjournalist Arnd Henze in sein Referat ein: "Trump wäre 2016 ohne Bonhoeffer nicht US-Präsident geworden." Denn der Theologe werde von US-evangelikalen Trump-Anhängern als einer der ihren adoptiert und als Widerstandskämpfer gegen das "System" missbraucht, wie das auch die deutschen Corona-Leugner tun. Über die Gefahren, die von rechten Medien ausgehen und die durch das Internet noch weit mehr Verbreitung finden, referierte Justus H. Ulbricht aus Dresden: "Wer über Begriffe herrscht, der herrscht auch über Menschen und Verhältnisse."

In Natascha Strobls Online-Vortrag über die Identitären, zu dem sie aus Wien zugeschaltet war, ging es ausnahmsweise nicht um den NS-Staat, sondern um viel ältere Geschichtsmythen, beispielsweise den Sieg des Franken Karl Martell über die Mauren, die Kreuzzüge oder die Türkenkriege im 16. und 17. Jahrhundert: stets Christentum gegen Islam. Heike Kleffner aus Berlin stellte - ebenfalls am Bildschirm - Statistiken von antisemitischen Straftaten vor. Das Bundeskriminalamt zählte 2022 trotz hoher Dunkelziffer nicht weniger als 2641 Delikte von Körperverletzung bis Volksverhetzung - täglich mindestens sieben. Ihr Fazit: "Offener Antisemitismus ist Bestandteil von Normalität geworden." Maik Tändler vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zog eine Linie von den 50er Jahren bis heute, indem er den Versuch von Alt- und Neurechten beschrieb, Vergangenheitsbewältigung zu verhindern: Sei es anfangs noch vor allem um die Kriegsschuldfrage gegangen, kam in den 80er Jahren der Holocaust in den Vordergrund, der von Geschichtsrevisionisten angezweifelt wurde.

In der abschließenden, von Sybille Steinbacher moderierten Podiumsdiskussion machte Jens-Christian Wagner klar, dass es für KZ-Gedenkstätten keine Neutralität bei Verstößen gegen die Erinnerungskultur geben dürfe. Er plädierte dafür, nicht zu warten, "dass Besucher in die Gedenkstätten kommen, sondern dass wir rausgehen, auch in den digitalen Raum."

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