Vernachlässigt und vergessen:Dachaus blinder Fleck

Lesezeit: 2 min

Der Leitenberg fristet seit jeher ein Schattendasein in der örtlichen Gedenkkultur - nur einmal nach dem Krieg gerät der Friedhof kurz in den öffentlichen Fokus.

Von Julia Putzger, Dachau

Wer an die Gräueltaten der Nazis in Dachau denkt, der hat vermutlich sofort ein Bild des Konzentrationslagers vor seinem inneren Auge. Manch einer mag auch an den ehemaligen "SS-Schießplatz Hebertshausen" denken oder vielleicht an den "Kräutergarten". Aber der Leitenberg? Der fristet ein Schattendasein in der Dachauer Gedenkkultur - seit jeher.

Die Geschichte des Hügels am Nordrand der Stadt Dachau mit dem offiziellen Namen Etzenhausner Leite beginnt Anfang des Jahres 1945. Sowohl von Osten als auch von Westen rücken die alliierten Truppen immer näher und bereiten sich auf die letzten entscheidenden Schlachten gegen die Deutschen vor. Schon seit 1944 werden frontnahe Konzentrationslager aufgelöst, deren Häftlinge in "Evakuierungstransporten" auch ins KZ Dachau gebracht werden. Das ist mit mehr als 30 000 Häftlingen dramatisch überfüllt, die katastrophalen Lebensbedingungen führen auch zum Ausbruch einer Typhusepidemie und zahlreichen Toten. Doch wegen Kohlemangel wird das Krematorium des KZ Dachau ab Februar 1945 nicht mehr betrieben. Stattdessen zwingt die SS Gefangene, die Leichen ihrer Kameraden zum Leitenberg zu transportieren. Für mehr als 4000 tote Häftlinge werden dort acht Massengräber angelegt.

Massengrab bei Dachau
:Der Leitenberg droht abzurutschen

Tausende KZ-Häftlinge liegen auf dem Leitenberg begraben. Doch der Verkehr einer Bahntrasse und einer Straße erschüttert den geschichtlich sensiblen Hügel, dessen Gestein leicht bricht.

Von Julia Putzger

Am 29. April 1945 befreien die Alliierten das KZ Dachau. Doch auch die amerikanische Militärregierung muss den Leitenberg weiter als Grabstätte nutzen, für rund 2000 Tote werden zwei weitere Massengräber angelegt. Aus pädagogischen Gründen werden ehemalige führende NSDAP-Mitglieder und Dachauer Bauern gezwungen, die Toten mit Pferdefuhrwerken zum Leitenberg zu transportieren und zu bestatten. Danach soll eigentlich eine große Denkmalsanlage auf dem Hügel errichtet werden, für die es auch Wettbewerbsausschreibungen gibt, allerdings ohne befriedigendes Ergebnis. So verschwindet der Leitenberg aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit und der Behörden - zumindest für ein paar Jahre.

Im August 1949 spaziert René Simon, Überlebender des Dachauer Konzentrationslagers, am Leitenberg, als er plötzlich menschliche Schädel und Gebeine in einer Baggergrube unweit des Weges entdeckt. Schnell entwickelt sich ein handfester Skandal in Dachau, der international Schlagzeilen macht. Fälschlicherweise wird in den Medien behauptet, dass es sich um die Gebeine von KZ-Opfern handelt und die Erde "zu kommerziellen Zwecken" genutzt werden soll, etwa zur Herstellung von Töpferwaren. Tatsächlich kann bei späteren Untersuchungen nicht klar festgestellt werden, wie lange die gefundenen Knochen bereits in der Erde lagen. Bei weiteren Probegrabungen am Leitenberg findet man ebenfalls menschliche Überreste. In Folge des Skandals wird klar, dass die Gräber in den vergangenen Jahren stark vernachlässigt wurden und in schlechtem Zustand sind. Die bayerische Staatsregierung wird aufgefordert, eine würdevolle Ruhestätte für die Opfer zu errichten, woraufhin das Gelände christlich geprägt umgestaltet wird. Die neugestaltete Friedhofsanlage wird am 16. Dezember 1949 eingeweiht, in den Jahren 1951 und 1952 zusätzlich eine Gedächtnishalle errichtet. Die italienische Gedächtniskapelle "Regina Pacis" wird 1963 eingeweiht.

In den 1950er Jahren kommt es zudem zu etlichen Exhumierungen und Umbettungen vorwiegend französischer Staatsbürger. Gleichzeitig werden überall in Bayern viele kleinere Friedhöfe und Grabstätten, die sich zum Beispiel entlang der Wegstrecken der Todesmärsche befanden, aufgelöst und so rund 1200 Tote auf dem Leitenberg beigesetzt. Heute liegen 7439 KZ-Häftlinge hier begraben.

© SZ vom 21.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

NS-Verbrechen
:Die vergessenen Prozesse

Die Dachauer Militärgerichtsverfahren, die vor 75 Jahren begannen, stehen im Schatten des Nürnberger Tribunals gegen die Nazi-Elite. Sie aber haben das KZ-System und die Beteiligung ganz normaler Deutscher aufgedeckt. Ein Rückblick.

Von Thomas Radlmaier

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: