Ausstellung in der KVD-Galerie:Zyklon aus Babylon

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Ganz schöner Wirbel auf dem Eis: Schlittschuhläufer mit einem Zyklon besonderer Bauart. (Foto: Toni Heigl)

Der Weßlinger Künstler Olaf Nie zerschnippelt alte Kupferstiche, Zeitschriften und Werbezettel und setzt sie zu phantastischen Szenen einer neuen Welt zusammen. Mehr als 100 dieser Collagen sind jetzt in der KVD-Galerie zu sehen.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Zur "Langen Nacht der offenen Türen" sahen die Dachauer in der Kleinen Altstadtgalerie 2007 zum ersten Mal Olaf Nies kunstvolle Collagen. Und sie staunten: So etwas Blätterwaldkauziges, so etwas Wimmelfimmeliges, so etwas Schnippelophiles hatten sie noch nie gesehen, und jeder, der auf seinem Rundgang Bekannte traf, empfahl ihnen, unbedingt noch in der Kleinen Altstadt-Galerie vorbeizuschauen. "Das hat komplett eingeschlagen", erzählt der Künstler stolz.

Nun feiert der 62-Jährige in der KVD-Galerie ein großes Comeback. In seiner neuen Ausstellung "Die nicht verfügbare Welt" zeigt er eine sagenhafte Fülle von 103 Arbeiten, mindestens 100 davon sind noch nie zuvor in Dachau gezeigt worden.

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Wer Nies Bilder schon mal gesehen hat, weiß, dass ihn Phantastisches erwartet. Besonders bizarr: ein halbnackter Krieger, der mit einer Keule auf eine mutierte Wurst-Plastik des österreichischen Künstlers Erwin Wurm eindrischt.

"Kunst ist immer der Versuch, etwas zu zeigen, das man nicht sagen oder schreiben kann", sagt Olaf Nie. Weshalb er sich auch Erklärungen zum Inhalt seiner Bilder spart. Er erzähle Geschichten "mit unterschiedlichen Erzählstrategien", und so wie Autoren mit Worten spielen und nach neuen, funkelnden Metaphern sucht, spielt Nie mit Motiven, Formen und Themen, die er neu arrangiert.

Flohmärkte und Antiquariate als Fundgrube

Fundgrube seiner Schöpfungen sind Flohmärkte und Antiquariate. Alte Kupferstiche, Fotos aus Zeitschriften, farbige Kunstdrucke, technische Zeichnungen, sogar Illustrationen aus 300 Jahre alten Büchern operiert er vorsichtig aus dem morschen Papier. "Jeder Antiquar hat auch einige kaputte, unvollständige Dinge", erzählt der Künstler.

Bei ihm erwachen sie zu neuem Leben: Ein Bergrücken geht organisch über in die Anatomie eines geöffneten menschlichen Brustkorbs, das Blätterwerk einer Baumkrone verwandelt sich unter dem Korpus eines Ruderboots zu einem brausenden Ozean und auf den Kopf gestellt wird der Turm von Babel zu einem Zyklon, der mit munteren Schlittschuhläufern über die gefrorenen Teiche Flanderns tobt.

Glubschende Schwammerl

Anders als Nie weiß der Betrachter oft nicht, was er im Einzelnen eigentlich sieht, etwa Details von Pilzen, Olaf Nie spricht von einer ganzen "Schwammerl-Serie" in seiner Ausstellung. Riesenhaft vergrößert und angedockt an einen Körper werden aus Pilzfäden glubschende Stielaugen.

Wenn sich die Wirklichkeit so verstellt, kommt die Wahrnehmung schnell ins Schlingern. Irgendwann traut man seinen eigenen Augen nicht mehr, das ist gleichermaßen bezaubernd wie verstörend.

Aber in dieser anarchischen Wandelbarkeit der Dinge liegen auch der Witz und die Poesie seiner Kunst. Wie wunderbar ist die Szene aufgereihter Soldaten, denen Schmetterlingsflügel wachsen, die ersten flattern schon davon. Ihre graue Militäruniform ist nur eine Larve, ein Übergangsstadium. Leider ist es, wie der Titel schon sagt, eine gerade "nicht verfügbare Welt".

"Manchmal fühle ich mich selbst wie ein Alien"

Zur Vernissage hat Nie keinen Geringeren als den Autor und Literaturkritiker Werner Fuld eingeladen. Der Laudator bescheinigt den Werken eine "undeutsche Gelassenheit", ja, sogar "eine bayerische Heiterkeit".

Das ist insofern bemerkenswert, als Olaf Nie ein Gewächs aus dem Ruhrpott ist, erst mit 17 kam er nach München. "Das war ein Bruch in meiner Biografie", sagt er und bekennt, dass er sich hier manchmal "wie ein Alien" gefühlt habe.

Womöglich hat Olaf Nie auch ein bisschen damit kokettiert, anders zu sein als die anderen - auch ein bisschen unzeitgemäß. Als er sich mit 23 Jahren entschloss, eine Ausbildung zum Buchbinder zu machen, war der Beruf schon so gut wie ausgestorben. "Das war eine Trotzreaktion", sagt er heute.

Auch Rudern auf sturmgepeitschten Baumwipfeln verlangt Seeleuten einiges ab. (Foto: Toni Heigl)
Vegan und klimafreundlich erscheint die Vulkaneruption auf diesem alten Kupferstich. (Foto: Toni Heigl)

Über das Buch zur Kunst - das war der Plan

Nie erwarb den Buchbinder-Meistertitel und machte sich selbständig, in seinem Brotberuf restauriert er alte Folianten und fertigt individuelle Buchumschläge. Über dieses Kunsthandwerk am Buch hoffte Olaf Nie, selbst Zugang zur Kunst zu bekommen. Aber so kompliziert, wie die Welt beschaffen ist, gelangte er auf verschlungenen Wegen durch eine versteckte Tapetentür ans Ziel.

Vor etwa 25 Jahren habe er begonnen, Postkarten zu "veredeln", erzählt er: Nie schnitt neue Motive aus und klebte sie auf die Karten, denn so, wie man sie im Handel bekam, waren sie ihm zu langweilig. "Ich habe eine Weile daran rumgefummelt. Meine Frau hat mich gefragt: Was machst du da eigentlich?"

Er wusste es selber nicht so genau, er klebt zusammen, was nicht zusammengehört, technische Zeichnungen, historische Kupferstiche, alte Nacktfotos, aber diese Objekte unterschiedlicher Seiten und Zeiten fügten sich ästhetisch, und auf verdrehte Weise ergaben sie dann sogar oft doch wieder einen Sinn.

Kunst als "Kommunikationsangebot"

Ein schönes Beispiel dafür ist "Der Sündenfall", ein Stich über das biblische Paradies: Eva, die Frucht vom Baume der Erkenntnis pflückend, ist nicht mehr nackt wie ihr Adam, sie trägt schon ein neumodisches Röckchen, bestehend aus einer Schreibmaschine, am Himmel leuchtet eine kartografierte Erde. Man kann hier bereits den Aufbruch in die moderne Wissensgesellschaft erahnen.

Aber wie zum Kuckuck soll man den Auftritt zweier bewaffneter Herzbeutel vor kitschigem Blümchen-Büttenpapier verstehen? Mit ihren geschulterten Vorderladern erscheinen sie wie dickbäuchige Aliens, die technologisch im 18. Jahrhundert steckengeblieben sind.

Was sagt Olaf Nie dazu?

"Es gibt nichts zu verstehen", brummelt er freundlich. Seine Kunst sei lediglich ein "Kommunikationsangebot". Deswegen hat er mitten in der Galerie auch zwei Sofas um einen Tisch gestellt. Die Besucher sollen über die Werke miteinander und gerne auch mit ihm ins Gespräch kommen. An den Lehnen klebt ein Zettel: "Olaf Nie + Gäste".

Ein Bergrücken braucht auch Bergrippen. (Foto: Toni Heigl)
Der Weßlinger Buchbinder und Künstler Olaf Nie zeigt mehr als 100 seiner Collagen in der KVD-Galerie. (Foto: Toni Heigl)
Postparadiesische Zustände: Eva trägt jetzt Schreibmaschine, ihr Adam ist noch blank. (Foto: Toni Heigl)

Entnommen hat der Künstler die beiden rätselhaften Alien-Wach-Organe übrigens einem Lehrbuch zur Humanmedizin. Wie ein Chirurg hat er sie mit Skalpell und feiner Schere aus den Seiten gelöst.

Die Präzision beim Schnitt ist - neben der geschickten Überlagerung von Bildebenen - auch der Grund, warum selbst auf Plakatformat vergrößerte Arbeiten nicht wie künstliche Arrangements erscheinen. "Das Wichtigste ist, dass man die Mühe nicht sieht, die dahintersteckt", sagt Olaf Nie.

"Die nicht verfügbare Welt", Ausstellung von Olaf Nie in der KVD-Galerie, Pfarrstraße 13. Öffnungszeiten Donnerstag bis Samstag 16 bis 19 Uhr und Sonntag von 14 bis 18 Uhr. Zu sehen bis 12. Februar.

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