Kultur in Dachau:Ansichten eines Visionärs

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Christo und Jeanne-Claude waren berühmt für spektakuläre Projekte wie die Verhüllung des Reichstags. Christo schuf dazu auch eindrucksvolle Zeichnungen und Collagen, die zugleich dem Fundraising dienten. Einige davon kann man in der Galerie Lochner sehen

Von Gregor Schiegl, Dachau

Den Plakataufsteller vor der Galerie Lochner hat der Dachauer Künstler Gerhard Niedermair in transparenter Plastikfolie verpackt, kunstvoll umwunden mit einer insgesamt 30 Meter langen Sisalschnur. Welche Ausstellung hier läuft, kann man durch die Folie nur schwerlich lesen, aber hier braucht es ohnehin nicht viele Worte, hier sagt die Verpackung schon alles: Die aktuelle Ausstellung im kleinen Kunsttempel an der Konrad-Adenauer-Straße 7 widmet sich dem Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude. Spätestens seit der Verhüllung des Berliner Reichstags mit 100 000 Quadratmetern dickgewebten Kunststoffs ist Christo auch jenen hierzulande ein Begriff, die mit Kunst sonst herzlich wenig am Hut haben.

Das spiegelt sich auch in der großen Resonanz wider: Mehr als 200 Besucher haben die Ausstellung bereits besucht. "Viele von ihnen haben Projekte des Künstler-Ehepaars in natura erlebt und darüber berichtet", erzählt Galerist Josef Lochner. "Das war spannend, und wir haben viel dazu gelernt." Er selbst hat den Künstler noch ein halbes Jahr vor seinem Tod persönlich erleben können, als Christo ein neues Projekt vorstellte. Lochner erinnert sich an einen "kleinen drahtigen Kerl", der ungeachtet seines überbordenden Renommées ausgesprochen sympathisch aufgetreten sei. Das Foto, das Lochner von dieser Begegnung geschossen hat, schmückt nun auch das Schaufenster seiner kleinen Galerie in der Altstadt.

Neben Fotografien und Druckgrafiken sind dort auch aufwendig gestaltete Collagen zu den Projekten von Christo und Jeanne-Claude zu sehen. Eine Auswahl von Büchern und Katalogen runden die Ausstellung ab. Das ist natürlich längst nicht so eindrucksvoll wie ein echter verhüllter Reichstag, aber anders als mit solchen handlichen "Sekundärkunstwerken" wäre so eine Ausstellung ohnehin nicht möglich. Die Projekte der beiden waren oft so raumgreifend, dass sie Parkanlagen, Seen, manchmal sogar ganze Täler füllten. Zudem waren sie immer zeitlich befristet und blieben damit einmalige Ereignisse.

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Christo und Jeanne-Claude akzeptierten bei all ihren Projekten keinerlei Sponsorengelder, Die Kosten wurden vollständig durch den Verkauf von Studien, Zeichnungen, Collagen, Frühwerken sowie Originallithografien anderer Arbeiten bezahlt. Der Marktwert eines Christo ist beträchtlich, nicht wenige Blätter sind erst zu fünfstelligen Beträgen zu haben. Wegen seines unübersehbaren Talents erhielt Christo schon mit sechs Jahren Zeichenunterricht. Bei der Entwicklung seiner Großprojekte spielten die Zeichnungen, in denen er mit Farbe und Materialität experimentierte, später dann eine nicht zu unterschätzende Rolle. Seine Zeichnungen und Collagen sind dabei weitaus mehr als nur Konstruktionsskizzen oder illustrative Entwürfe. Es sind elementare Bestandteile des künstlerischen Schaffensprozesses, die diesen transparent machen, zugleich sind es visionäre Bilder von dokumentarischem Wert. Gerade die mit farbiger Wachskreide gearbeiteten Werke zeugen vom feinen Gespür Christos für Räume, Farben und Lichtstimmungen. Teils geht der Realismus so weit, dass maßstäbliche Fotografien in die Zeichnungen mit eingefügt wurden. In den Bildern "Wrapped Roman Sculptures" zu den verhüllten römischen Statuen an der Münchner Glyptothek (1991) sorgt ein echtes Stück Stoff für plastischen Faltenwurf.

Der Lust am Verpacken frönte Christo schon in den Sechzigerjahren obsessiv: Jeanne-Claudes Schuhe wurden ebenso eingewickelt wie der Kinderwagen des gemeinsames Sprosses, Telefone wurden verpackt, Rosen, Flaschen, VW-Käfer. Die Dinge zu verkleiden, sie aus der Funktion zu lösen und sie auf die Form zurückzuführen, das war sein künstlerisches Grundkonzept, das neue Sichtweisen eröffnete.

Heute vergisst man leicht, dass die Wertschätzung für Christo und Jeanne-Claude nicht immer so groß war. Auch die Idee, den Reichstag zu verpacken, fanden anfangs nicht alle toll: Christo sei ein "Kunst-Scharlatan", der mit der deutschen Geschichte "Schindluderspiele" treibe, motzten die Feuilletons. Die Vita des gebürtigen Bulgaren Christo Wladimirow Jawaschew, der in den Fünfzigerjahren in den Westen floh und sich dort jahrelang als Staatenloser durchschlagen musste, mittellos und in permanenter Angst vor Abschiebung, macht aber nachvollziehbar, warum gerade dieses Projekt ihm so am Herzen lag: Die Teilung der Welt in Ost und West prägte sein Leben, sie war auch seine Geschichte, und der Reichstag in Berlin war das sinnfällige Symbol dazu.

Ein erfreuliches Detail dieser Ausstellung ist, dass Jeanne-Claude dieselbe Würdigung erfährt wie Christo. Im männerdominierten Kunstbetrieb wurde sie über Jahrzehnte so beharrlich marginalisiert, dass sie auch heute gerne noch als eine Art angeheiratete Assistentin dargestellt wird. Tatsächlich, und das hat "der Meister" selbst immer wieder hervorgehoben, bildeten er und Jeanne-Claude eine künstlerische Einheit, sie entwickelten ihre Konzepte gemeinsam und wurden sogar am gleichen Tag geboren: am 13. Juni 1935. Allerdings starb Jeanne Claude schon 2009, Christo folgte seiner Lebens- und Kunstgefährtin 2020 im Alter von 84 Jahren nach.

Eines ihrer letzten großen Projekte waren die "Floating Piers" 2016 auf dem Lago d'Iseo unweit von Bergamo, eine drei Kilometer lange, schwimmende Stoffbrücke, bestehend aus 70 000 Quadratmetern gelbem Stoff, getragen von 200 000 schwimmenden Kunststoffklötzen. Sage und schreibe 1,3 Millionen Menschen tummelten sich auf dem begehbaren Kunstwerk. "Wie bei allen unseren Projekten war der Besuch von The Floating Piers" vollkommen umsonst und offen für alle", wird Christo in einem Ausstellungskatalog zitiert. "Es gab keine Eintrittskarten, kein Eröffnungen, keine Reservierungen und keine Eigentümer. The Floating Piers war eine Verlängerung der Straße und die gehört allen." Was den Kunstsammler und gelernten Ingenieur Josef Lochner an diesem Projekt so fasziniert, ist auch die technische Leistung. Für die Kunstsoffklötze mussten eigens Spritzgussmaschinen konstruiert werden. Nach dem Ende des Projekts wurde alles wieder mustergültig recycelt.

Von den "Floating Piers" zeigt die Galerie Lochner Fotos von Wolfgang Voltz, signiert von Christo und vom Fotografen - und auch einige weniger kostspielige signierte und nummerierte Fotos des Dachauer Klinikarztes Michael Scherer. Der Erlös aus dem Verkauf seiner Fotos wird an den Obdachlosenverein "BISS - Bürger in sozialen Schwierigkeiten" gespendet, eine Idee, die auch Christo und Jeanne Claude sicherlich gut gefallen hätte.

Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende: Ein letztes Projekt, dessen Planung schon seit 1962 läuft, wird in diesem Jahr von 18. September bis 3. Oktober posthum realisiert: Der Arc de Triomphe in Paris wird verhüllt, um das verstorbene Künstlerehepaar zu ehren. Wie bei allen Projekten hat Christo zur Planung Kreidezeichnungen und Collagen angefertigt, die auch als Offsetdrucke verkauft werden. Einer dieser Drucke ist auch in der Galerie Lochner zu sehen. Christo erklärte dazu: "Es wird wie ein lebendes Objekt sein, das im Wind lebendig wird und das Licht reflektiert. Die Falten werden sich bewegen, die Oberfläche des Denkmals wird sinnlich. Die Leute werden den Arc de Triomphe anfassen wollen."

Einige Besucher der Christo-Ausstellung in Dachau haben bereits für den Herbst Zimmer in Paris gebucht.

Christo und Jeanne-Claude, Ausstellung in der Galerie Lochner, Konrad-Adenauer-Straße 7 in der Altstadt. Öffnungszeiten: Donnerstag 16 bis 19 Uhr, Samstag 12 bis 15 Uhr, Sonn- und Feiertage 14 bis 17 Uhr und nach telefonischer Vereinbarung unter 08131/66 78 18 oder 0162/455 96 99. Zu sehen bis 7. November. Achtung: In der Galerie dürfen sich nie mehr als fünf Personen gleichzeitig aufhalten.

© SZ vom 19.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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