Dachauer Abgeordnete im Bundestag:"Die weltweiten Krisen fordern uns jeden Tag aufs Neue"

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Zentrum der Macht: Viele neue Abgeordnete sind schnell ernüchtert, wenn sie im Alltag des Parlamentsviertels angekommen sind. (Foto: Christian Spicker/Imago)

Seit Dezember 2021 regieren SPD, Grüne und FDP gemeinsam in Berlin. Die Dachauer Bundestagsabgeordneten blicken zurück auf ein Jahr im permanenten Ausnahmezustand.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Die Dachauer und Fürstenfeldbrucker Bundestagsabgeordneten ziehen nach einem Jahr Ampelkoalition in Berlin eine gemischte Bilanz. Die Regierung aus SPD, Grünen und FDP war am 8. Dezember 2021 unter dem Motto "Mehr Fortschritt wagen" im Amt gestartet. Doch der Enthusiasmus hielt nur kurz, schnell fing es an, zwischen den Partnern zu knirschen, etwa beim Streit um die Atomenergie oder jetzt beim Straßenbau. Überschattet wurde die Regierungsarbeit vor allem von dem Krieg in der Ukraine und seinen Auswirkungen, die anfängliche Vorhaben der Ampel in den Hintergrund rücken ließen.

Der Olchinger Michael Schrodi ist finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Er kennt sich mit Zeugnissen aus. Bevor er 2017 erstmals als Abgeordneter in den Bundestag einzog, unterrichtete er als Lehrer an einem Gymnasium. Er würde der Ampel für ihr erstes Jahr in der Regierung eine Zweiminus als Schulnote geben, sagt er. "Heißt im Klartext: Die Leistungen entsprechen den Anforderungen."

Jedoch waren und sind die Anforderungen, denen die Ampel genügen soll, enorm. Es war ein Jahr im permanenten Ausnahmezustand. Schrodi spricht von "Mehrfachkrise". Der 45-Jährige verweist auf die noch nicht beendete Pandemie, die Aufgabe des Klimaschutzes und den russischen Angriffskrieg - damit habe die neue Regierung "die größte Herausforderung zu meistern, die es in der Geschichte der Bundesrepublik je gab". Man habe daher in kürzester Zeit 200 Milliarden Euro mobilisiert, um die Preise für Gas, Strom oder Pellets und Heizöl zu senken. Hinzukommen 100 Milliarden Euro für Entlastungspakete.

"Wir sind als Fortschrittskoalition gestartet."

Fast 100 Gesetze hat die Ampel bisher auf den Weg gebracht. Auf einige davon konnte Schrodi beim Entstehungsprozess direkt Einfluss nehmen. Als finanzpolitischer Sprecher saß er in Gesprächsrunden mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). "Die größte Erhöhung des Kindergeldes in der Geschichte der Bundesrepublik auf 250 Euro habe ich in den Verhandlungen durchsetzen können", sagt Schrodi mit Stolz. Auch die vielen Direktzahlungen, die gerade kleinen und mittleren Einkommen helfen würden, habe er mitgestaltet. Für sich persönlich ziehe er daher eine "sehr positive Bilanz".

Auch Beate Walter-Rosenheimer (Grüne) findet, dass sich die Bilanz der Ampel sehen lassen kann. "Wir sind als Fortschrittskoalition gestartet und wir werden als Fortschrittskoalition weitermachen - auch wenn uns die weltweiten Krisen jeden Tag aufs Neue fordern", sagt sie. Die 58-Jährige, die dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe angehört, ist der Meinung, die Ampel habe "schnelle und pragmatische Antworten" auf die akute Krise gefunden und gleichzeitig "grundlegende Reformen für einen zukünftigen klimagerechten Wohlstand" vorangebracht. Sie nennt Energie-Hilfen in Milliardenhöhe, den Anstieg des Mindestlohns auf zwölf Euro, höheres Kindergeld und Kinderzuschlag sowie die Einführung des Bürgergeldes. Mit diesen und anderen Maßnahmen bringe man "die Menschen sicher und solidarisch durch die Krise".

Beate Walter-Rosenheimer (Grüne) setzt in der Krise auf Pragmatismus. (Foto: oh)
Katrin Staffler (CSU) musste sich erstmals in der Opposition zurechtfinden. (Foto: CSU)
Michael Schrodi ist überzeugt, dass die Ampel viele zukunftsweisende Entscheidungen getroffen hat. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Für Walter-Rosenheimer, die bei der vergangenen Bundestagswahl den Wiedereinzug ins Parlament fast verpasst hätte, trat die Ampel vor einem Jahr ein schweres Erbe an. 16 Jahre lang habe die Union in Regierungsverantwortung notwendige Reformen verschleppt, sagt sie. Jetzt gehe es darum, Deutschland energiepolitisch widerstandsfähig zu machen. Auch "jahrelange Blockaden für eine moderne Gesellschaftspolitik" würde die Regierung nach und nach auflösen: Als Beispiel führt Walter-Rosenheimer das neue Chancenaufenthaltsrecht an, das Menschen, die viele Jahre in der sogenannten Duldung leben mussten, endlich eine Perspektive eröffne, in Deutschland arbeiten und bleiben zu können.

"Unserem Anspruch, das Handeln der Regierung kritisch zu begleiten, sind wir im vergangenen Jahr gerecht geworden."

Katrin Staffler bewertet die Regierungsarbeit der vergangenen zwölf Monate ganz anders, zufrieden ist sie dennoch. Die stellvertretende CSU-Landesgruppenvorsitzende musste sich wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen von CSU und CDU erstmals in der Rolle der Opposition zurechtfinden. Doch Staffler findet, dass die Union gut in der Opposition angekommen sei. "Unserem Anspruch, das Handeln der Regierung kritisch zu begleiten, aber vor allem konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, sind wir im vergangenen Jahr gerecht geworden", sagt die 41-Jährige und verweist in diesem Zusammenhang beispielhaft auf die Einigung beim Bürgergeld. Nur durch den Druck der Union sei das Prinzip des Förderns und Forderns erhalten geblieben, so Staffler. Viele Betriebe aus dem Landkreis Dachau und Fürstenfeldbruck hätten sich "mit großen Existenznöten" in den vergangenen Monaten an sie gewandt, erzählt die CSU-Politikerin. Aus ihrer Sicht habe sich die Bundesregierung bei den Wirtschaftshilfen verzettelt. Ein Beispiel sei das Energiekostendämpfungsprogramm, das temporäre Zuschüsse zu gestiegenen Strom- und Gaspreisen ermögliche und von der Ampel zum Jahresende beendet werde.

Für sich selbst zieht Staffler mit Blick auf das vergangene Jahr eine positive Bilanz. Ende Januar kam ihr Sohn auf die Welt. "Wie bei vielen anderen Eltern ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in meinem Fall mit dem Bundestagsmandat, zeitweise herausfordernd gewesen", sagt sie: "Aber dank der Unterstützung meines Mannes, meiner Familie und meines Teams haben wir es gemeinsam gut gemeistert."

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