30 Jahre Biss:"Ich bin doch kein Bettler, ich bin Händler"

Lesezeit: 3 min

Tibor Adamec ist seit der Gründung von Biss dabei - und verkauft am Marienplatz. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Seit 30 Jahren verkaufen Menschen in sozialen Schwierigkeiten in München die Straßenzeitung Biss. Tibor Adamec ist seit der Gründung dabei - und bekommt nicht nur Geld, sondern auch Selbstbewusstsein.

Von Cordula Dieckmann und Niklas Treppner/dpa

Sie heißen Hinz & Kunzt, Trott-War, drobs, Straßenkreuzer oder Asphalt - rund 25 Straßenzeitungen gibt es in ganz Deutschland. Verkauft werden sie von Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, arm und manchmal auch obdachlos. Eine der bekanntesten ist die Münchner Zeitschrift Biss, nicht nur, weil der schillernde Modezar Rudolph Moshammer das Projekt förderte, selbst über seinen Tod hinaus.

Sie ist auch die erste Straßenzeitung, die in Deutschland gegründet wurde, nach dem Beispiel anderer Länder wie Großbritannien oder den USA. An diesem Dienstag feiert Biss das 30-jährige Bestehen.

Der Kampf gegen Armut eint die Blätter, die nach ähnlichen Prinzipien arbeiten. "Sie geben den Menschen eine schnelle, würdige und legale Möglichkeit, Geld zu verdienen, während gleichzeitig die Gründe der Armut durch Journalismus und Interessenvertretung angesprochen werden", schreibt das Internationale Netzwerk der Straßenzeitungen (INSP) mit Sitz im schottischen Glasgow, dem weltweit 90 Zeitungen in 35 Ländern angehören. "Um effektiv Armut zu bekämpfen, müssen wir den Menschen zuhören, die sie erlebt haben."

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2,80 Euro kostet das Biss-Magazin mit dem roten Schriftzug und einer Auflage von rund 42 000, das etwa 100 Menschen in München verkaufen, vor allem Männer und einige Frauen. Eine Besonderheit des Projektes ist die Tatsache, dass der gemeinnützige Verein Biss e.V. viele der Verkäufer anstellt und ihnen so Sicherheit samt Sozial- und Krankenversicherung bietet.

"Die Zeitung spielt bei uns nur die zweite Geige. Es geht bei Biss um die Verkäuferinnen und Verkäufer", sagt Geschäftsführerin Karin Lohr mit Blick auf die Gründungsidee, Menschen in sozialen Schwierigkeiten Hilfe zur Selbsthilfe zu geben. Das notwendige Geld kommt unter anderem durch den Zeitungsverkauf, aber etwa auch durch Spenden oder Patenschaften. Zwischen 16 und 39 Stunden arbeiten die Beschäftigten pro Woche, je nach Zahl der verkauften Zeitungen können sie im Monat bis zu rund 1889 Euro netto verdienen.

Eine Spende aus Mitleid - das wollen die Verkäufer nicht

Nicht mit Geld aufzuwiegen ist das Gefühl, wieder eine regelmäßige Arbeit zu haben, eine Tagesstruktur und Kontakte zu anderen Menschen. Doch das Selbstbewusstsein kann leiden, wenn Menschen ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen und der Verkäuferin am Bahnhof oder vor der Kneipe nur Geld zustecken, ohne das Heft haben zu wollen. Eine Spende aus Mitleid, die dem eigentlichen Zweck zuwiderläuft. Denn die Leute, die verkaufen, wollen gerade keine Almosen, sondern wieder Teil der Gesellschaft sein.

In der Biss geht es um Politik, Gesellschaft und Sozialthemen. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

So wie der dienstälteste Verkäufer von Biss: Tibor Adamec ist seit der Gründung des Blattes dabei und seit 1998 fest angestellt. "Ich bin doch kein Bettler, ich bin Händler", sagt der 86-Jährige. Adamec ist für sein schickes, gepflegtes Aussehen und seine zurückhaltende Art bekannt. "Wichtig ist die Persönlichkeit, die verkauft", sagt er. Die gibt ihm wohl auch das Selbstbewusstsein, sich gegen Pöbeleien zu wehren. Einem "Geh doch arbeiten, du faule Sau" habe er mal ruhig entgegnet: "Ich bin doch angestellt."

Sonst bekomme er aber viel Wertschätzung von seinen Kunden, die er zum Teil seit Jahren kenne. "Da komme ich mir vor wie ein Heiliger", sagt Adamec. Wohl auch deshalb fehlt dem Rentner etwas, wenn er mal frei hat und nicht an seinem Stammplatz am Marienplatz steht.

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Damit die Kunden treu bleiben, will Karin Lohr ihnen etwas bieten. "Die Zeitung muss von Profis gemacht werden. Sie muss so gut sein, dass unsere Leute das auch verkaufen können", meint die Soziologin. Professionelle Journalisten schreiben bei Biss Artikel, von Politik über Gesellschaft bis hin zu Sozialthemen wie psychischen Problemen oder Gewalterfahrung. Auch Betroffene schreiben und geben Einblicke in eine Welt, mit der viele Leser sonst keine Berührung hätten.

Die Magazine seien eine "Brücke zwischen den Milieus", beschreibt es Volker Macke, Sprecher der deutschsprachigen Straßenzeitungen und Chefredakteur von "Asphalt" in Hannover. Doch die Wirtschaftskrise und die steigenden Preise sind auch hier spürbar. Tendenziell seien die Auflagen bis auf wenige Ausnahmen rückläufig, sagt Macke. Viele Leute müssten stärker aufs Geld schauen. Es gebe sogar Stammkunden, die sich von den Verkäufern regelrecht verabschiedet hätten. Zudem seien die Menschen gehetzter und hätten weniger Zeit für Gespräche.

Um zu bestehen, probieren Zeitungen vieles aus, etwa bargeldlose Bezahlung. Sie feilen am Design, um Jüngere zu begeistern. Dann ist da noch die Digitalisierung. Es gebe digitale Angebote als Ergänzung zum Printprodukt, erzählt INSP-Chef Mike Findlay. Doch das gedruckte Heft ist für ihn unabdingbar. Für ihn zählt der direkte Kontakt, wenn der Verkäufer dem Kunden die neue Ausgabe in die Hand drückt: "Wir sehen, dass die Verkäufer gesundheitlich und von ihrem Wohlbefinden her profitieren wegen des sozialen Aspektes ihrer Arbeit."

Diese Wertschätzung wünscht sich auch Lohr von den Menschen, denen jemand eine Straßenzeitung anbietet: "Für ein Lächeln oder ein freundliches Gesicht und dass man grüßt und jemanden erkennt als Mensch, dafür muss man kein Sozialarbeiter sein."

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