Bilanz des Gefahren-Atlas:Was sich für Radfahrer bessert - und was nicht

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  • Vor einem Jahr ging der Gefahren-Atlas online, ein digitales Crowdsourcing-Projekt der SZ.
  • In vier Wochen haben Sie damals mehr als 5700 brenzlige Stellen für Radfahrer und Fußgänger eingetragen.
  • Was ist daraus geworden? Hat die Stadt in den Radverkehr investiert, Gefahrenstellen beseitigt? Eine Bilanz.

Von Thierry Backes

Dieter Reiter überlegte nicht lange. Er griff zum Telefon und bat die Verwaltung, den roten Radstreifen in der Residenzstraße umgehend entfernen zu lassen. Münchens Oberbürgermeister hatte beim Spaziergang mit einem SZ-Reporter auf der Nord-Süd-Achse durch die Innenstadt erlebt, wie eng es auf der Strecke zugeht - und wie angespannt das Verhältnis zwischen den Verkehrsbeteiligten ist: Ein Radfahrer und ein Fußgänger bepöbelten sich erst und wurden dann handgreiflich. Reiter ging dazwischen und sagte damals, die Verkehrspolitik werde zur Chefsache, das Thema wolle er fortan "ganz nah" bei sich haben.

Das war im August 2014, wenige Wochen nach dem Start des Gefahren-Atlas der SZ im Internet. Auf der Seite sz.de/problemstrassen konnten die Nutzer vier Wochen lang brenzlige Stellen für Radfahrer und Fußgänger auf einer Karte markieren. 5773 Einträge kamen zusammen, 4748 betrafen den Radverkehr. Die SZ leitete die Meldungen an die Verwaltung weiter und wollte nun wissen: Was ist ein Jahr später aus den Einträgen geworden? Hat die Stadt in den Radverkehr investiert, Gefahrenstellen beseitigt?

Der Atlas habe für "viel Aufregung im Stadtrat und bei der Verwaltung gesorgt", sagt Elisabeth Zorn, die kommissarische Radverkehrsbeauftragte der Stadt. Sie sagt aber auch, dass die Daten "zwar aufgehoben, aber nicht angefasst" wurden. Dies könnte sich nun ändern, denn bei der Verwaltung habe das Projekt zu der Erkenntnis geführt, "dass wir ein professionelles Beschwerdemanagement brauchen".

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Beschwerdemanagement

Ende Juli soll der Stadtrat dafür die Weichen stellen. Die Verwaltung will eine Stelle schaffen, die sich um Anliegen, Anfragen und Beschwerden zum Radverkehr kümmern soll. Dazu braucht es zunächst ein Expertenhearing, auf dessen Basis ein Konzept entwickelt wird. Bestandteil ist laut Planungsreferat eine internetbasierte "Meldeplattform".

Zudem soll die Stelle des Radverkehrsbeauftragten neu besetzt werden, Zorn erledigt die Aufgabe bisher nur nebenbei. Der Beauftragte soll zentrale Anlaufstelle für alle Themen sein, die mit mehreren Referaten koordiniert werden müssen. Allerdings ist der Job im Planungsreferat angesiedelt - und nicht mehr, wie unter Rot-Grün, direkt an das Büro eines Bürgermeisters angeschlossen. Ein Zeichen? Keineswegs, heißt es aus dem Büro von Dieter Reiter, das Thema bleibe für ihn "sehr wichtig".

Mehr Geld für Radwege

Mitte Dezember jubelten SPD und CSU über die Erhöhung der sogenannten Nahmobilitätspauschale von 4,5 auf zehn Millionen Euro. Das Geld fließt in das Radwegenetz, doch wohin genau, ist bis heute offen. Das Baureferat arbeitet an einer Beschlussvorlage, die "demnächst" in den Stadtrat kommen soll. Das heißt aber nicht, dass 2015 nicht in neue Radwege investiert wird: An der Schleißheimer Straße zum Beispiel entsteht gerade ein Radfahrstreifen zwischen Theresien- und Elisabethstraße, auch in der Albert-Roßhaupter-Straße in Sendling wird an neuen Radverkehrsführungen gearbeitet.

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Eine der wichtigeren Baumaßnahmen betrifft die Tegernseer Landstraße. Zwischen Tegernseer Platz und Martin-Luther-Straße erneuert die MVG die Gleise, gleichzeitig entsteht ein Radweg in südlicher Richtung. Weiter nördlich, zwischen Ostfriedhof und Tegernseer Platz, sollen ebenfalls Radverkehrsanlagen entstehen, einen entsprechenden Stadtratsbeschluss soll es im Herbst geben. Bleibt nur die Frage: Wie kommen die Radfahrer am Sechzgerstadion über die mehrspurige Martin-Luther-Straße, wenn sie von Haidhausen nach Harlaching wollen? Es werde eine Querungsmöglichkeit geben, verspricht Zorn. Immer wieder wird im Rathaus eine Radverkehrsbrücke am Giesinger Berg gefordert, zuletzt von der CSU. Ob sie am Ende gebaut wird? Noch unklar.

Rosenheimer Straße

Über kein Radverkehrsthema wurde in den vergangenen Monaten so sehr gestritten wie über einen Radweg zwischen Rosenheimer Platz und Orleansstraße. Nun gibt es einen von SPD und CSU getragenen Grundsatzbeschluss, der Radverkehrsstreifen vorsieht, ohne auf Autospuren zu verzichten. "Es war klar, das ist eine Lösung, wo nicht alle gleich Hurra schreien", sagt CSU-Stadtrat Manuel Pretzl.

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Beim Radverkehr war die CSU in den vergangenen Monaten deutlich aktiver als der Koalitionspartner SPD. Die Partei von Bürgermeister Josef Schmid hat zum Beispiel schnelle Fahrradverbindungen auf Nebenstrecken ins Spiel gebracht. So will sie den Radverkehr zwischen Rotkreuzplatz und Innenstadt nicht mehr über die Nymphenburger, sondern über Blutenburg- und Karlstraße laufen lassen; auch für die Lindwurmstraße wünscht Pretzl sich eine Alternative. Dem ADFC gefällt das nicht, will er doch lieber Verbesserungen auf den Hauptrouten durchsetzen - zur Not auf Kosten des Autoverkehrs.

CSU-Stadtrat Pretzl sagt hingegen: "Der Autoverkehr wird weiter zunehmen. Das heißt aber nicht, dass wir für eine autogerechte Stadt stehen." Die Aussage steht ein wenig im Widerspruch zu einer Anfrage, die die CSU-Stadträte Marian Offman und Kristina Frank gerade eingereicht haben - und die einen klaren Tenor hat: Die Verbreiterung eines kleinen Stücks Radweg in der Landsberger Straße soll rückgängig gemacht werden.

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Großprojekte auf Eis

"Ich sehe bei der neuen Rathauskoalition keine Leidenschaft für das Thema Radverkehr", sagt Grünen-Stadtrat Paul Bickelbacher. "Wenn es darum geht, Platz herzugeben, mangelt es gewaltig an Engagement." Er meint damit den Wunsch vieler Radfahrer nach breiten Radwegen auf der Lindwurmstraße oder der Zweibrückenstraße.

Das aber sind Projekte, die die Verwaltung ohne politisches Mandat gar nicht erst angehen will. Auch in der Schwanthalerstraße wird es vorerst wohl keinen Radweg geben - obwohl eigentlich ausreichend Platz wäre. Die Straße werde gerade im Rahmen des Verkehrskonzeptes zum Südlichen Bahnhofsumfeld untersucht, heißt es dazu aus der Verwaltung - im Zusammenhang mit dem Umbau des Hauptbahnhofes und der möglichen Sperrung des Bahnhofsplatzes für den Autoverkehr. Dabei "wäre es hier nötig zu handeln", sagt Elisabeth Zorn.

Bei der Frage, ob eine Autospur in der Brienner Straße zwischen Odeonsplatz und Maximiliansplatz wegfallen könnte, verweist die Stadt auf die anstehende Sanierung des Altstadtringtunnels, die erst 2022 fertiggestellt sein soll. Dann könnte gegebenenfalls eine Fahrspur wegfallen - "wenn denn der politische Wille dazu da ist", sagt Zorn.

© SZ vom 21.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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