Altersarmut:"Wenn ich niemanden treffen könnte, würde ich verrückt"

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Fast fünf Jahre lang lebte Vera B. in ihrer Wohnung ohne Strom und Gas, weil sie die Rechnungen nicht zahlen konnte. (Foto: Catherina Hess)
  • Die Zahl der alten Menschen, die mit wenig Geld auskommen müssen, steigt.
  • Der SZ-Adventskalender für gute Werke will ihnen mit den Spenden der Leser helfen. Zwei Beispiele:
  • Aus entsorgten Pflanzen hat sich Eugen K. ein kleines Paradies geschaffen. Das ist der einzige Lichtblick in seinem bescheidenen Leben.
  • Auch Vera B. hat viel zu wenig Geld und fürchtet sich vor Einsamkeit.

Von Thomas Anlauf

Was andere Menschen wegwerfen, ist für Eugen K. ein Schatz. Entsorgte Pflanzen holt er sich aus dem Müllcontainer der kleinen Wohnanlage. Überall in seinem Ein-Zimmer-Appartement blüht und grünt es. Auf dem Holzregal steht ein kleiner Kaktus, in Vasen auf dem Boden wachsen Orchideen, und in größeren Kübeln stehen kleine Palmen. "Die Leute werfen einfach alles weg", sagt Eugen K., lacht und fügt hinzu: "Lachen ist gesund und kostet nichts." Kaufen könnte sich der 87-Jährige keine der Pflanzen, wie auch: Zum Leben bleiben ihm nur ein paar Euro am Tag.

Trotzdem hat sich Eugen K. in seiner Wohnung ein kleines Reich geschaffen. An den Wänden hängen Stiche von alten Meistern oder Fotografien seiner Familie aus früheren Tagen. Die Kücheneinrichtung in der kleinen Kochnische hat er sich ebenso selbst gebaut wie sein mintgrünes Sofa, einen Sessel in der selben Farbe und sogar sein Bett, das er wie eine Theaterbühne hinter einem schweren Vorhang verschwinden lassen kann. "Ich arbeite jeden Tag etwas", sagt der Mann mit den schlohweißen gewellten Haaren. "Wenn ich etwas denken kann, bin ich glücklich."

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Die Arbeit hilft ihm gegen das Alleinsein zu Hause. Ins Café zu gehen, um unter Leute zu kommen, kann er sich nicht leisten. Dafür schlendert er einmal in der Woche über den nahe gelegenen Flohmarkt und sucht dort nach Schätzen - Stoff oder alten Möbelstücken, aus denen er etwas Neues schaffen kann. "Mehr als drei oder vier Euro gebe ich aber nie aus", sagt er und lächelt. Schon ein paar hundert Euro würden ihm helfen in seinem bescheidenen Leben, so gerne würde er auch wieder einmal einfach ein Theater besuchen.

Dass sich Eugen K. so eine positive Lebenshaltung bewahrt hat, ist bei seinem Schicksal nicht selbstverständlich. Geboren in der Ukraine als Sohn eines Russen und einer deutschen Mutter lebte er mit seiner Familie in einer Kleinstadt bei Mönchengladbach, wo K. als junger Mann auch drei Jahre lang bei einer Maschinenbaufirma arbeitete. Die Familie musste schließlich umsiedeln, nach dem Krieg lebte sie zunächst in Zwickau. Von dort sollen er, sein älterer Bruder sowie beide Eltern verhaftet und nach Sibirien in ein Lager gebracht worden sein. "Nur ich habe überlebt", erzählt Eugen K. Er habe für die Soldaten geputzt und Knöpfe angenäht, so sei er irgendwie durchgekommen. Eines Tages gelang er nach Kiew, wo er schließlich 40 Jahre lebte. Er schlug sich als Dreher, Elektriker oder Schneider durch - "überall da, wo man ein bisschen Geld verdienen kann", sagt er heute.

Doch dann erhielt er eine Einladung eines Freundes nach England. In Moskau bekam K. ein Transitvisum, mit dem er im Zug nach Westen reisen konnte. Doch statt nach England zu fahren, stieg er kurzerhand in Köln aus. "Ich bin zu meinem alten Arbeitgeber gegangen und hab' dort meine Papiere geholt", sagt er - als einzigen Beweis, dass Deutschland seine ehemalige Heimat war. Die Behörden schickten ihn nach München, wo er vorübergehend in einer Pension am Hauptbahnhof lebte. Nach zwei Wochen bekam er einen deutschen Pass und sogar eine Wohnung.

Zu diesem Zeitpunkt war Eugen K. bereits 63 Jahre alt. Er holte schließlich seine Lebenspartnerin und sein Kind nach, 1996 heirateten die beiden in München, doch die Ehe mit der 30 Jahre jüngeren Frau aus der Ukraine ging nach 14 Jahren wieder in die Brüche.

Jeden Tag allein in einer kleinen Wohnung

Nun lebt er allein in seinem winzigen Reich im Osten Münchens. Seine Ex-Frau hat er seither nicht mehr getroffen, auch seine Kinder sieht er kaum, sagt er. So bastelt der 87-Jährige, der trotz seines hohen Alters noch bei erstaunlich guter Gesundheit ist, jeden Tag an seiner kleinen Wohnung, näht aus alten Stoffen Kleidung für sich oder schaut einmal in der Woche zum nahe gelegenen Flohmarkt nach einem neuen Schatz. Die Einsamkeit könnte er ohne seine täglichen kleinen Aufgaben nicht ertragen. Er tippt an die Stirn und lächelt fein: "Sonst wird man doch verrückt."

Einsamkeit im Alter ist neben der Armut besonders schlimm. Die Stadt und die Sozialverbände in München bemühen sich, Angebote für Senioren zu schaffen, wo sie sich treffen oder fortbilden können. Viele Menschen ziehen sich jedoch zurück. Aus Angst, als armer Mensch abgestempelt zu werden.

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"Wenn ich niemanden treffen könnte, würde ich verrückt." Vera B. sagt das ganz leise und blickt in die Tasse Kaffee vor sich. Die schmale Frau hat Ringe unter den Augen, ihre Wangen sind eingefallen. Hätte sie nicht hilfsbereite Nachbarn, bei denen sie in den vergangenen Jahren hin und wieder etwas kochen durfte, die ihr auch mal Geld oder eine Bluse schenkten - wer weiß, ob Vera B. heute noch am Leben wäre. Fast fünf Jahre lang lebte sie in ihrer Wohnung ohne Strom und Gas, weil sie die Rechnungen nicht zahlen konnte.

Aus Scham und auch aus Unwissenheit ließ sie sich nicht helfen. Sie hatte schließlich immer hart gearbeitet als Köchin. Wenn Sie etwas Geld übrig hatte, gab sie es ihrem Sohn, der mittlerweile ein dreijähriges Kind mit seiner Partnerin hat. Als Vera B. vor drei Jahren aus Altersgründen keine Arbeit mehr fand, lebte sie aus Kostengründen bereits im Dunkeln.

Nur Kerzen und eine kleine batteriebetriebene Lampe erhellten ihre Wohnung. Abends, wenn wieder die Kälte durch die Wände kroch, hüllte sie sich in Decken, etwas Warmes zu essen oder zu trinken hatte sie ja nicht. Zum Glück wurde sie in der langen dunklen Zeit nie ernsthaft krank. Sie blickt von ihrem Kaffee auf und lächelt. "Toi, toi, toi, ich musste nie eine Tablette nehmen."

Seit 46 Jahren lebt Vera B. nun in Deutschland, aufgewachsen ist sie in einer Stadt bei Belgrad. Der Vater, der mit nur 52 Jahren bei einem Unfall starb, war Fabrikarbeiter. Als junge Frau lernte sie ihren Mann kennen, der sein Glück in Deutschland suchte und sie 1970 nachholte. Da hatte sie schon ihren kleinen Sohn. Zehn Jahre später ging ihr Mann zurück ins heutige Serbien und heiratete eine Andere. "Geld hat er nie gezahlt", sagt Vera B.. Aber sie war eine starke Frau, arbeitete als Köchin in Restaurants, zog allein ihren Sohn groß. Zu der Zeit hatte sie auch genügend Geld, "ich konnte anderen helfen, das war ein ganz anderes Leben".

Heute braucht Vera B. selbst dringend Hilfe. Als sie auch die Miete nicht mehr zahlen konnte, wandte sie sich ans Sozialreferat. Seit Juli hat sie nun zumindest wieder Strom in der Wohnung, seit einem Monat kann sie auch wieder heizen. Nach fünf Jahren.

Die 65-Jährige hat nun endlich auch einen Rentenantrag gestellt. Viel wird es nicht sein, aus der Armut wird sie nicht mehr herausfinden. Dabei würde sie gerne ihre Wohnung so herrichten, dass sie auch einmal ihre Nachbarn einladen kann. Doch an Silvester wird sie wohl wieder allein auf ihrem Balkon stehen wie in den dunklen Jahren und weinen.

© SZ vom 03.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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