Alt & arm:Ersparnisse? Längst aufgebraucht

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Frauen sind von Altersarmut besonders betroffen. (Foto: Catherina Hess)

Viele Frauen haben ein Leben lang gearbeitet, aber dann reicht die Rente nicht für das Nötigste. So wie bei Hertha R. und Sonja F.

Von Monika Maier-Albang

An das "Fräulein Alt" kann sich Hertha R. gut erinnern, selbst heute noch, nach achtzig Jahren. Das Fräulein war die Lehrerin der Kinder, die keine Kindheit hatten. "Sie hat sich aufgeopfert für uns", erzählt Hertha R. Die Schülerinnen, zehn, zwölf an der Zahl, lagen in ihren Betten, fixiert in Gips. Sie sollten, sie durften sich nicht bewegen. Über Jahre. Allein die Vorstellung ist schrecklich, und doch kann Hertha R. der Zeit etwas Gutes abgewinnen: "Wir waren ja vergleichsweise wenige im Unterricht. Da konnte die Lehrerin sich mit jeder von uns befassen."

Hertha R. war neun Jahre alt, als die Ärzte bei ihr eine besondere Form der Tuberkulose feststellten, eine, bei der die Wirbel angegriffen werden. Ihre Mutter war zwei Jahre zuvor an Tuberkulose gestorben. "Die Ärzte hatten sie einfach heimgeschickt zum Sterben. Es gab nichts, was sie hätte heilen können." Für die Tochter aber gab es Hoffnung, eine Klinik im Dresdner Stadtteil Klotzsche.

"Selbstheilung durch Ruhe", so formuliert es R., sei dort der therapeutische Ansatz gewesen. "Der Körper sollte seine ganze Kraft auf die Genesung verwenden." Also lagen die Kinder im Bett, wurden auf Pritschen zum "Sonnenbad" nach draußen gefahren, bekamen Lebertran. "Zu meinem Entsetzen!" Manche waren nach ein, zwei Jahren geheilt. Manche starben. Hertha R. lag fast fünf Jahre im Gipskorsett.

Als sie entlassen wird, tobt in ihrer Heimatstadt Leipzig der Krieg. Sie sitzt mit den Nachbarn im Keller, hört die Bomben fallen, hört die Einschläge. Dann ist der Krieg zu Ende, die Amerikaner kommen, das russische Militär - und Hertha R. flieht aus der Stadt. Mit 17, allein. Ihr Vater hatte wieder geheiratet, aber ihre Familie hatte über all die Jahre ja das Klinikpersonal gebildet. Sie kommt in Hessen unter bei einem Onkel, muss dann wieder in eine Spezialklinik, weil ein Abszess - eine Folge der Tuberkulose - nicht ausheilt. So kommt sie ins Allgäu, und später nach Oberammergau.

Denn Hertha R. hatte da schon einen Plan: Sie würde Malerin werden! Sie fand einen Meister, "dem bin ich so lang hinterher, bis er mich genommen hat". Eine Frau als Geselle? Undenkbar damals. "Und zu klein war ich auch. Aber ich war unglaublich stur." So bekam sie, was sie wollte. Und wurde Lüftlmalerin. Arbeitete in Schloss Linderhof. In Ettal. Bis der Abszess wieder aufbrach. Quälende Jahre, wieder Behandlungen. Schließlich war sie gesund. Musste eine neue Stelle finden.

Und kam zu den Bavaria-Filmstudios, später zu einer "Lichtpauserei" an der Schleißheimer Straße. "Lauter schöne Stellen", sagt Hertha R., die nie geheiratet hat. Nur, wie es so war in ihrer Generation - und wie es auch heute noch sein kann: Sie bekam ein Frauengehalt. "Es war nie viel Geld. Es hat gerade immer so zum Leben gereicht." Und wie lebt man in München mit 551 Euro Rente? "Ohne staatliche Hilfe könnte ich nicht mal die Miete, Strom und Wasser allein zahlen", sagt Hertha R., die deshalb wie mehr als 15 000 Münchner ergänzend Grundsicherung im Alter erhält.

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Sie ist ein herzlicher, positiv denkender Mensch, und doch: Die vergangenen Jahre "waren schon schlimm". Sie hatte Brustkrebs, durchlitt die Chemotherapie, überlebte eine Lungenentzündung, musste beide Knie operieren lassen, zuletzt auch die Augen. "Jetzt reicht's langsam." Sie sitzt noch auf einer Zahnarztrechnung, das macht ihr zu schaffen: 270 Euro; die Krankenkasse hat 90 Euro übernommen.

Sie malt gern, Aquarelle. Aber sie hat fast keine Farben mehr. Und kein Geld, sich welche zu kaufen. Die Landschaftsbilder mit bayerischen Seen, die Van Goghs und Renoirs, die in ihrer Wohnung hängen - alles Kopien, von ihr gefertigt. "Die französischen Impressionisten fand ich schon immer großartig", sagt Hertha R. "Fantasie hatte ich als Kind schon." Und Zeit, die Dinge um sich herum betrachten zu lernen, ja auch im Überfluss.

Auch Sonja F. hatte in den vergangenen Jahren mit Ärzten mehr zu tun, als ihr lieb ist. "Ich kenne jetzt diesen besorgten Blick." Der Blick, bevor sie dem Menschen, der bis zu dem Zeitpunkt noch kein Patient ist, die Diagnose mitteilen. "Manche versuchen es schonend, andere wählen die direkte, brutale Methode", sagt Sonja F. Bei ihrem Vater hörte sich das so an. "Herr F., Sie haben Lungenkrebs." "Hoi", habe ihr Vater nur geantwortet. "Da war er schon dement. Er hat's gleich vergessen. Gott sei Dank."

Sonja F. hat ihre Eltern und weitere Angehörige im Sterben begleitet - und ist selbst dabei verarmt. (Foto: Catherina Hess)

2012 war das. Zu dem Zeitpunkt hatte Sonja F. schon einige harte Jahre hinter sich. 2002 bemerkte sie bei ihrer Mutter erste Anzeichen von Demenz; die Eltern lebten damals noch in einer eigenen Wohnung in Baden-Württemberg. Sonja F. organisierte eine Haushaltshilfe, einen Pflegedienst; ihr damals schon 75 Jahre alter Vater war mit der Situation überfordert. "Also bin ich ständig zu ihnen gefahren", erzählt Sonja F. Möglich war das, weil sie damals noch als Selbständige arbeitete - sie hatte eine PR-Agentur.

Doch die Selbständigkeit hat eben auch Tücken: Man muss ja Aufträge an Land ziehen, Fristen einhalten. Mit der Zeit sei es immer schwieriger geworden, ihre Arbeit mit der Sorge um die Eltern zu vereinbaren, erzählt Sonja F. Anfangs konnte ihre Schwester noch helfen. Doch im Jahr 2008 bekam auch sie eine Diagnose: Brustkrebs. Von da an fühlte Sonja F. sich allein verantwortlich.

Ihr Vater stirbt 2012, ihre Mutter 2013. Zuvor: Streit mit dem Pflegedienst, nachdem die Mutter sich wund gelegen hatte. Ein Rechtsstreit mit den Vermietern, die den Eltern die Wohnung kündigten. Sonja F. sucht und findet endlich ein Pflegeheim für die Eltern. Als schließlich mal Ruhe einzukehren scheint in ihr Leben, verwüstet ein Wasserschaden ihre Wohnung. "Danach war ich so erschöpft, dass ich dachte, es geht nicht mehr." 2015: Bei ihrer Schwester werden neue Metastasen festgestellt. Im Februar erhält Sonja F.s Lebenspartner seine Diagnose: Lungenkrebs. Er stirbt im April.

"Da ist niemand mehr, mit dem ich mich über meine Vergangenheit austauschen könnte."

Sonja F. hat all die Daten aufgeschrieben. Sie spricht nicht mehr gern darüber. Zu viel, zu schnell hintereinander, um es begreifen und verarbeiten zu können. Sonja F. hat Ingwertee mit Hollersaft gemacht, das gibt ein schönes Rot, das mit dem weißen Porzellan kontrastiert. Für sich selbst gibt sie noch Rote-Beete-Saft hinzu. Gut gegen Blutarmut. Die sei mittlerweile kritisch, sagen die Ärzte. Das ist ihre Diagnose. Mehr will sie nicht wissen. Es reicht.

Die glänzenden Tassen sind ein Erbstück der Eltern. In der Familie ihres Vaters gab es Porzellanmaler; die Kartons mit all dem, was die Mutter fabrikneu erstanden hat, füllen jetzt die Wohnung der Tochter. Sonja F. wird sie verkaufen, wenn sie kann. Die Gedecke für die Großfamilie, sie sind eine Last für einen, der allein übrig geblieben ist.

Ihre Schwester starb im Juni 2016. Manchmal, sagt Sonja F., müsse sie an Flüchtlinge denken, die im Krieg ihre gesamte Familie verloren haben. Nur ist es anders bei ihr. "Ich bin ein ziviles Opfer." Lediglich Fotos sind ihr geblieben von der Familie. "Da ist niemand mehr, mit dem ich mich über meine Vergangenheit austauschen könnte." Freunde, ja. Aber auch Freunden will man nicht über Jahre mit schon wieder neuen Geschichten vom Pflegen und Sterben kommen.

Und dann auch noch die Sorgen ums Geld. Eine Zahnbehandlung stünde an. "600 Euro Selbstzahleranteil. Das schaffe ich nie", sagt Sonja F. Die Spülmaschine ist kaputt. Andere würden einfach eine neue kaufen. Sonja F. hat all ihre Ersparnisse längst aufgebraucht. Die Beerdigungen. Und die Verdienstausfälle in den Jahren, in denen sie ihre Angehörigen gepflegt hat. Reich, sagt sie, sei sie eh nie geworden mit ihrer Arbeit. "Aber es waren immer interessante Projekte." Werbung für eine Dokumentation über Guantanamo zum Beispiel, am Filmfest. "Jetzt bezahle ich für diese Freiheit."

© SZ vom 16.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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