Altersarmut:Nach dem Arbeitsleben kommt die Armut

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Viele Menschen in Bayern kommen mit ihrer Rente nur noch schwer über die Runden. Mehr als 80 Prozent der Frauenrenten im Freistaat erreichen nicht einmal mehr die 1000-Euro-Grenze. (Foto: Catherina Hess)
  • 63,5 Prozent aller Rentner in Bayern liegen mit ihrer Rente unterhalb der Armutsgrenze.
  • Besonders hoch ist die Armutsgefährdungsquote bei Frauen ab einem Alter von 65 Jahren.
  • Innerhalb Bayerns fallen die Renten je nach Region sehr unterschiedlich aus.

Von Dietrich Mittler und Ulrike Schuster, München

Christine Lechner aus Coburg hat ihr Leben lang gearbeitet. Mit 14 begann ihre Lehre in einem Frisiersalon, später arbeitete sie sich in einem Versandbetrieb hoch zur Teamleiterin. Jetzt ist Lechner (alle Namen geändert) 67 Jahre alt, geht wieder arbeiten, weil ihre Rente in Höhe von monatlich 1100 Euro nicht reicht. Jeden Sonntag packt sie von 21 Uhr bis sechs Uhr morgens beim früheren Arbeitgeber Pakete. Für 450 Euro im Monat mehr im Portemonnaie. In der Vorweihnachtszeit tritt sie zudem Samstags von 5.30 Uhr morgens bis mittags zwölf Uhr an. Aber dennoch gibt es Situationen, in denen sie "am liebsten im Boden versinken würde". Neulich musste sie ihrem Zahnarzt eingestehen: "Diese Rechnung in Höhe von 2500 Euro kann ich nicht zahlen - das geht nur in Raten."

Christine Lechner ist nur eine unter den vielen Senioren in Bayern, die knapp über der Armutsschwelle leben - und diese lag 2016 in Bayern bei 1039 Euro im Monat für einen Einpersonenhaushalt. Dabei gehe es ihr noch besser als vielen anderen: "Ich bin wenigstens noch fit genug, wieder arbeiten zu gehen", sagt sie. Die jüngsten Berechnungen, die der Sozialverband VdK am Mittwoch vorstellte, geben Lechner recht: "Im Rentenbestand für Altersrentner liegen 63,5 Prozent aller bayerischen Rentnerinnen und Rentner unter einer Rente von 1000 Euro monatlich, also unterhalb der Armutsschwelle", sagte Ulrike Mascher, die den VdK sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene vorsteht.

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Aus Sicht empirischer Sozialwissenschaftler sind diese Zahlen allerdings äußerst irreführend: "Sie suggerieren, dass über 60 Prozent der bayerischen Rentnerinnen und Rentner in Armut leben. Das ist selbstverständlich nicht der Fall", betonte Sebastian E. Wenz, Wissenschaftler am GESIS-Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Köln. Die Zahlen des VdK seien deshalb so hoch, weil dort jeder Rentner als arm gezählt werde, sobald seine individuelle Rente unter die Armutsschwelle für Einpersonenhaushalte falle - egal, ob er nun wirklich alleine oder etwa mit einem Partner lebe, dessen weit überdurchschnittliche Rente den Haushalt insgesamt über die Armutsschwelle hebe. Irreführende Darstellungen wie diese kommen laut Wenz in der Debatte zu Armut und Ungleichheit immer wieder vor.

Nach den jüngsten Zahlen des Bayerischen Landesamtes für Statistik waren 2016 insgesamt 18,1 Prozent der Rentner und Pensionäre sowie 17,6 Prozent aller über 64-Jährigen in Bayern armutsgefährdet. Doch auch diese Zahlen sind besorgniserregend. Besonders hoch sei in Bayern die Armutsgefährdungsquote von Frauen im Altern von 65 Jahren und älter. Diese lag 2016 bei 24,5 Prozent. Mittlerweile ist knapp jede vierte Frau dieser Altersgruppe somit armutsgefährdet - Tendenz steigend. Eine dieser Frauen ist Eleonore Listmann. Sie bekommt - ebenfalls nach einem ausgefüllten Berufsleben, unter anderem als Industriekauffrau - lediglich eine Brutto-Rente 1118,11 Euro im Monat.

Mit 60 Jahren musste sie aufgrund einer lebensbedrohlichen Krankheit eine Erwerbsminderungsrente beantragen - das heißt: 10,8 Prozent weniger Rente bis zu ihrem Lebensende - und das angesichts "explodierender Lebenskosten", wie Mascher betont. Listmann zahlt allein für ihre Wohnung im Kreis Dachau 680 Euro Miete, Nebenkosten 160 Euro - hinzu kommen die Rechnungen für Strom, Rundfunk, Telefon, Versicherungen.

Listmann musste zwei Jahre lang für eine neue Brille sparen. Trotz Augenbeschwerden trug sie solange die alte. "Ich habe viele Ehrenämter angenommen, damit ich nicht so viel zum Nachdenken komme", sagt sie. Doch es fällt ihr schwer, nicht nachzudenken. Wenn ihr Untermieter, wie bereits angekündigt, nun tatsächlich auszieht, ist Listmann finanziell am Ende. "In München und Umgebung ist das Problem der Altersarmut besonders drängend", sagt Mascher.

Innerhalb Bayerns gibt es überhaupt erhebliche regionale Unterschiede. Um nur ein Beispiel zu nennen: Innerhalb Oberbayerns erhalten Männer im Landkreis München im Schnitt nun 1204 Euro Altersrente, jene im Berchtesgadener Land nur 942 Euro. In Oberbayern lebende Frauen kommen im Schnitt laut VdK auf 713 Euro, in Niederbayern auf 576 Euro.

Das Schlimmste ist die Scham, sich nicht mehr selbst helfen zu können

Sophie Weixel aus Straubing liegt mit 755 Euro gar noch über dem Schnitt. Gut geht es der 70-Jährigen nicht: Würde ihr nicht die Tochter ab und zu aushelfen, sie wüsste nicht, wie sie ihre Medikamente bezahlen soll. Schon der Kauf der Batterien für ihr Hörgerät - ein Riesenproblem. "Ich will aber niemanden zur Last fallen", sagt sie, wie so viele in ihrer Altersgruppe. Und Schulden machen? "Niemals", sagt sie.

Nicht alle können das so durchhalten wie Sophie Weixel. Das zeigt der Schuldneratlas 2017. Die Anzahl überschuldeter Senioren, die älter als 70 sind, beträgt in diesem Jahr deutschlandweit 194 000, gut 20 000 mehr als 2016. Das ist ein Anstieg um zwölf Prozent, mehr als in anderen Altersklassen. Etliche Betroffene in Bayern sieht Eva Richter täglich vor sich. Sie ist Mitglied im Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldner und Insolvenzberatung. "Die Scham, sich nicht mehr selbst helfen zu können, ist bei alten Menschen sehr groß", sagt sie.

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So etwa ergeht es ihrer Klientin Roswitha Huber. Ein Leben lang hat die 67-Jährige geputzt. Bis sie die Treppen hinabstürzte. Das Putzen sei vorbei, sagte der Arzt. Da ist kein Mann, da sind keine Kinder. Roswitha lebt von 190 Euro Rente im Monat, die Rückzahlungen für Kredite sind deutlich höher. Irgendwann waren da 17 000 Euro Schulden. Immer wieder kamen Rechnungen. "Da wird der Briefkasten zum Albtraum", sagt Richter.

© SZ vom 14.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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