Klavier-Show am schwebenden Flügel:182 Mal Hängepartie

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"Piano Vertical" von Alain Roche: Morgens um 6.45 Uhr gibt der Pianist Alain Roche an einem Kran hängend ein Konzert im Werksviertel über der Baustelle vom neuen Konzertsaal. (Foto: Stephan Rumpf)

Im Münchner Werksviertel wird der Pianist Alain Roche ein halbes Jahr lang bei Sonnenaufgang spielen - an einem in der Luft hängenden Flügel.

Von Oliver Hochkeppel

Der Schweizer Pianist Alain Roche scheint nicht nur schwindelfrei, sondern auch ein ausgesprochener Frühaufsteher zu sein. Schon im Januar 2020 verblüffte der Erfinder von "Piano vertikal" beim "Out of the Box"-Festival auf dem Werksgelände mit musikalischem Frühsport, der hoch hinaus wollte: Auf dem Baugrund des geplanten Konzerthauses spielte er an drei Tagen frühmorgens ein 45-Minuten-Konzert - in 78 Metern Höhe, auf die ein Kran seinen Flügel senkrecht gezogen hatte. Das Instrument ist ebenso wie der Klavierhocker mit besonderer und besonders stabiler Lehne eine gemeinsam mit den Schweizer Klavierbauern Fernand Kummer und Cédric Berthoud entwickelte Spezialanfertigung: Damit die Hämmer die Saiten auch vertikal korrekt anschlagen, ist eine komplett neue Mechanik nötig.

Die spektakulären Bilder, die damals um die Welt gingen, kann man nun wieder erleben, und zwar gleich 182 Mal. Von der Sonnenwende am 22. Dezember bis zum 20. Juni 2024 wird Roche jeden Morgen vor Sonnenaufgang bis in die Morgendämmerung seine Hängepartie unter dem Titel "When The Sun Stands Still - Solstice To Solstice" spielen. Bei jedem Wetter und zeitlich immer an den Sonnenaufgang angepasst.

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Es geht Roche bei seinem "Piano vertikal", das er seit 2013 mit gut 120 Klavierhängungen in Szene gesetzt hat, aber nicht um Rekorde. Sondern darum, "allgemeingültige Vorstellungen zu brechen und einen anderen Blick auf das Alltägliche zu werfen." Das Klavierspiel in die Höhe und in die Vertikale zu heben, ist für ihn ein "poetischer Akt". Ein Gesamtkunstwerk, das obendrein aktuelle Bezüge einbaut. So wie das Programm 2020 unter dem Titel "Chantiers" (Baustelle) auf seinen Spielort, die Konzerthaus-Brache im Werksviertel, buchstäblich anspielte, hat nun auch "When The Sun Stands Still" eine ästhetische wie gesellschaftliche Botschaft.

Wieder bekommen die Zuschauer, die sich in Liegestühle legen können, Kopfhörer, um das Klavierspiel hören zu können. Diesmal aber werden simultan und in Echtzeit auch Naturklänge eingespielt: 40 hochsensible Mikrofone sind über ganz Bayern verteilt: von der Zugspitze über die Naturhöhle Pottenstein oder den Nationalpark Bayerischer Wald bis zum Ferchenbach bei Schloss Elmau oder der Moorlandschaft bei Bad Heilbrunn. Das Erwachen der Natur, die Verbindung von ländlichem und urbanem (Klang-)Raum wird improvisatorischer Teil von Roches Komposition, soll am Ende auch Bewusstsein schaffen für Vielfalt und Reichtum unserer Landschaften und Biotope und zu ihrem Schutz aufrufen.

Man darf es also ganz unabhängig vom spektakulären Show-Wert durchaus als Kommentar zu Klima- und Zeitenwende verstehen, wenn sich bei Roches Projekt allmorgendlich Natur mit Kultur verbindet, ein halbes Jahr lang von Sonnenwende zu Sonnenwende.

Alain Roche: When The Sun Stands Still, Freitag, 22. Dez., bis Freitag, 21. Juni, jeweils eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang, Werksviertel, Atelierstraße 18, www.werksviertel-mitte.de

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