Von der Fülle der Fakten ist man am Ende der Ausstellung fast besoffen. Zumindest wäre es kein Wunder, wenn man die Räume im ersten Stock des Stadtmuseums mit einem leicht glasigen Blick verlassen würde, denn "Bier. Macht. München" versammelt an die 700 Exponate zur Kultur- und Sozialgeschichte des Bierbrauens in der Stadt. Und genauso gut hätte die Schau auch "Menschen, Biere, Sensationen" heißen können. Denn sie zeigt sehr eindrucksvoll, welchen Stellenwert das Bier in München hat und immer schon hatte - hier Lebenden wird das oft schon gar nicht mehr bewusst. Das war auch bei Ausstellungsmacherin Ursula Eymold und ihren Mitarbeitern der Fall: "Wir waren überrascht, in wie viele Bereiche das Thema hineinreicht." (Im Bild: Münchner Ikonen: "Klosterstüberl Westend", Ölgemälde von Florian Süßmayr)
Das geht auch dem Besucher so. Er findet nun von diesem Freitag an im Stadtmuseum eine Schau vor, die sehr viele Facetten dieses Themas aufgreift. Anlass und Ausgangspunkt ist natürlich das Jubiläum des bayerischen Reinheitsgebots für Bier, das 500 Jahre alt wird. 1516 war das freilich für München schon ein alter Hut respektive eine lacke (also abgestandene) Halbe, denn in der Stadt wurde dieses Reinheitsgebot bereits 1487 erlassen, galt somit bereits seit 29 Jahren. Überhaupt gab es im mittelalterlichen München - auf dem Gebiet innerhalb des Altstadtrings - praktisch an jedem Eck eine Braustätte. Noch 1600 hatten 74 bürgerliche Brauereien neben denen der Klöster hier ihren Standort. Normales Wasser war ja meistens mit allen möglichen Bakterien verseucht und giftig; vergorene, alkoholhaltige Getränke hingegen in dieser Hinsicht unbedenklich. Was auch den hohen Bierkonsum jener Zeit erklärt. (Im Bild: Das Wirtshausschild der Mathäser-Bierstadt)
Mit der Säkularisation und später der Gewerbefreiheit entstanden dann aus vielen kleinen Brauereien wenige große, aus Brauern wurden Bierbarone. Und die Industrialisierung fand in München ihren Widerhall vor allem in der Entstehung von Großbrauereien. Die zogen an den damaligen Stadtrand - und sind im Falle von Augustiner noch heute dort, an der Landsberger Straße. Neueste Technik kam zum Einsatz. Große Kühlanlagen, die das Brauen von untergärigem Bier und damit das "Münchner Helle" erst ermöglichten. Carl Lindes Erfindungen und sein unternehmerischer Erfolg wären ohne die Münchner Brauereien wohl nicht möglich gewesen. (Im Bild: Ein Werbeplakat aus den Zwanzigerjahren)
Aber die Münchner Brauereibesitzer waren ja auch selbst findige Unternehmer und verstanden es, Marken zu schaffen. Was man quasi symbolhaft schon an den Logos sieht: Das von Spaten beispielsweise entstand 1883 und ist um einige Jahre älter als das von Coca-Cola. Und weil die Münchner trotz bestem Willen nicht noch mehr Bier trinken konnten - rund 465 Liter waren es 1885 pro Kopf, heute sind es nur noch um die 107 -, wurde der Export entdeckt. Mit Hilfe des Fremdenverkehrs und Münchens Image als "Stadt des Bieres und der Kunst" wurde Münchner Bier zu einer weltweit erfolgreichen Marke. Löwenbräu warb mit dem Slogan: "Kein Erdteil ohne", Paulaner hatte "tropensichere Flaschenbiere" im Angebot. Der Ausstoß stieg um 1900 auf 3,2 Millionen Hektoliter, jeden Tag fuhren bis zu 120 Eisenbahnwaggons mit Kühlwägen voller Bier in alle Welt hinaus. (Im Bild: Ein Schmuckkrug der Münchner Brauereien)
Der wirtschaftliche Erfolg war das eine. Er hatte aber auch deutliche Auswirkungen auf das Alltagsleben. "Bier formte die Stadt", wie Mitkurator Konstantin Lannert sagt, und zwar bis heute. Man kann das an zahlreichen Exponaten sehen. Es entstanden ja nicht nur Fabrikanlagen, sondern auch wahre Bierpaläste und Bierkeller zwischen Gasteig und Theresienhöhe, die das Stadtbild prägten. Dort fanden die wichtigsten politischen Veranstaltungen statt - von der Räterepublik bis hin zum "Beer Hall Putsch", wie der Aufstand der Hitlerei von 1923 im angloamerikanischen Sprachraum heißt. Die Wirtschaft wurde zum natürlichen Lebensraum der breiten Masse, die in viel zu kleinen und viel zu teuren Wohnungen lebte. Nicht selten teilten sich zwei Leute ein Bett im Schichtbetrieb; da verbrachte man die freie Zeit, die nicht dem Schlafen diente, eben im Wirtshaus. (Im BIld: Ohne Eis kein untergäriges Bier: Hier wird es 1913 im Nymphenburger Schlosspark gewonnen.)
Schöne Exponate gibt es dazu in der Ausstellung, etwa einen Original- Stammtisch aus der früheren Mathäser-Bierstadt am Stachus oder den Tresen aus dem Giesinger Bauerngirgl, der zur aussterbenden Spezies der Boazn gehörte. "Die Individualisierung schreitet voran", sagt Ursula Eymold, "die Familienfindung in der Boazn ist nicht mehr zeitgemäß." Dafür trinkt man jetzt kleine Biere aus der Flasche in Clubs. In "Bier. Macht. München" werden sie symbolisiert durch den ehemaligen Tresen und die Klotür des Atomic Cafés, das ja auch schon Stadtgeschichte ist. Das und mehr lernt man kennen beim Rundgang. Stellvertretend für die Frontfrauen des täglichen Bierkampfs etwa die legendäre "Schützenliesl" Coletta Möritz, die es als Bedienung im Sterneckerbräu zu Weltruhm brachte und die von Kaulbach gemalt wurde. Oder die 28 Grundformen des Rausches nebst der dafür aufzubringenden Kosten vom harmlosen "Spitzl" (24 Kreuzer) bis hin zum veritablen "Saurausch" (zwei Gulden 42 Kreuzer) auf einer Bildertafel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein eigener Raum befasst sich mit dem "Münchner Bierjahr" vom Salvator bis zum Weihnachtsbock. Und wie sehr das Bier mit der Politik in der Stadt verknüpft ist, das wird einem bewusst, wenn man Günter Becksteins Stimme hört, wie er als damaliger bayerischer Ministerpräsident seine berühmte Zwei-Mass-Doktrin verkündet. Oder wenn man Bilder aus dem letzten Kommunalwahlkampf sieht, wo sich die drei Kandidaten Dieter Reiter (SPD), Josef Schmid (CSU) und Sabine Nallinger (Grüne) beim Anzapfen bewähren müssen. Überhaupt scheint es die wichtigste Eigenschaft eines Oberbürgermeisters zu sein, der Stadt als erster Schankkellner zu dienen - beim Wiesnanstich nämlich. (Im Bild: Ohne Kellnerin kein Bier: "Schützenliesl" von Kaulbach)
Für die beengten Raumverhältnisse im Stadtmuseum ist das alles beinahe ein bisschen viel Stoff, muss man als kleines Manko anmerken. Manchmal wirkt die Ausstellung fast wie ein Wiesntisch am Italienerwochenende, wo sich an die ohnehin schon vollen Bierbänke immer noch ein neues Pärchen hinquetscht. Immerhin, der Stimmung schadet so etwas ja nie. "Bier. Macht. München", bis 8. Januar 2017, St.-Jakobs-Platz 1, dienstags bis sonntags, 10 bis 18 Uhr. (Im Bild: Keine Flasche ohne Bier: Werbeplakat der Unionsbrauerei von 1912)