"30 Jahre Bayerisches Staatsballett":Auf eigenen Füßen

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Aus dem eigenen Stall: Die in München ausgebildeten Kusha Alexi und Oliver Wehe 1996 in Giselle. (Foto: Charles Tandy)

Igor Zelensky feiert mit der Ballettfestwoche "30 Jahre Bayerisches Staatsballett" und damit die Loslösung seiner Kompanie von der Oper - dank Konstanze Vernon, einer furchtlosen Kämpferin

Von Eva-Elisabeth Fischer

Hätten wir, dann täten wir: Normalerweise gäbe es in diesem Fall wohl eine große Gala mit Ehemaligen als Ehrengästen, die sich an den grandiosen Aufbruch und ihre großen Zeiten erinnern. Igor Zelensky, Chef des Bayerischen Staatsballetts, würde sich möglicherweise live vor einer Frau verbeugen, die er nur als lebende Legende kennt: Konstanze Vernon. Als Freund von Jubiläen möchte Zelensky aber in jedem Fall feiern, und sei es eben virtuell. Deshalb gibt es jetzt einen halbstündigen Film, zum Weinen schön, inhaltlich aber weniger am Jubiläum und dessen wechselnden Protagonisten orientiert. Es ist vielmehr ein Blick hinter die Ballettkulissen, fokussiert auf die unbedingte Hingabe der Tanzenden an den Tanz schlechthin - mit Maske, ohne Maske, unerbittlich gegen sich selbst, Menschen, denen mit jedem Tag ohne Publikum die Zeit unter den Fingern zerrinnt. Das hätte auch der Vernon gefallen.

Der aktuelle Kopf des Staatsballetts also feiert: 30 Jahre Bayerisches Staatsballett. 30 Jahre künstlerische Autonomie in der Oper, frei von Opernverpflichtungen. 30 Jahre eigener künstlerischer Etat. Die Balletturaufführung am Anfang der heurigen Ballettfestwoche also streamt wie der große Rest des Programms ins heimische Wohnzimmer unter dem Fixstern "30 Jahre Bayerisches Staatsballett". Ein willkürliches Jubiläum: Denn Konstanze Vernon startete bereits in der Spielzeit 1989/90 mit einem rechtlich verordneten i. G. für "in Gründung" mit ihrem phänomenalen Befreiungsschlag. Die gebürtige Berlinerin mit entsprechender Schnauze, Jahrgang 1939, war eine Kämpferin, die vor nichts zurückschreckte, nicht vor Gängen in die Staatskanzlei und das Kultusministerium, nicht vor der erschütternden Ignoranz ihrer Gegenüber - und das als Frau in Bayern, wie in erwähntem Jubiläumsfilm bewundernd bemerkt wird. 1978 hatte sie bereits die Voraussetzungen für eine bessere Ausbildung mit der Gründung der Heinz-Bosl-Stiftung und der Übernahme der Ballettakademie geschaffen. Auf diese Weise zog sie sich den international konkurrenzfähigen Tänzernachwuchs als Bühnenstars in der eigenen Kompanie selbst. Denn ihre mit dem Titel Primaballerina gekrönte Karriere war in eine Zeit gefallen, als das Ballett in Deutschland, einem Land ohne echte Balletttradition, als nicht ganz ernst zu nehmende, aber notwendige Opern-Dreingabe abgetan wurde.

In August Everding hatte Konstanze Vernon einen mächtigen Mitstreiter. (Foto: Privat)

Die miserabel bezahlten Tänzer hatten "Opernverpflichtung" im Vertrag, mussten also die Balletteinlagen in Opern und Operetten hüpfen. (Dieser Passus findet sich übrigens noch in einer Vertragsvorlage von 1988 zum Staatsballett.) Ohne diese Operneinlagen hätten die Tänzer auch kaum zu tun gehabt. Denn die wenigen Ballettabende an den Mehrspartenhäusern waren für die chorfreien Abende disponiert. Es gab maximal zwei Ballettpremieren pro Spielzeit, zu denen der Operndirektor inhaltlich sein Plazet geben musste: ein abendfüllendes Ballett und einen gemischten Abend, derer sich in den Feuilletons gnädig die Musikkritiker annahmen - ausnahmslos alte graue Männer.

Vernon hatte glücklicherweise einen mächtigen Wegbereiter und Mitstreiter: Generalintendant August Everding, der bereits Anfang der Achtzigerjahre in einem öffentlichen Podium bestätigt wissen wollte, dass München eine Tanzstadt sei. Sein Antipode in allem und auch darin: Dirigent und Staatsoperndirektor Wolfgang Sawallisch, von dem die gern zitierte Sottise stammt, Ballett habe etwas mit Füßchen zu tun, davon verstünde er nichts.

Ivan Liška beerbte Vernon um den Platz des Direktors (hier mit Bettina Wagner-Bergelt und Wolfgang Oberender) (Foto: Winfried Hösl)

Wenn zu den Füßchen das Köpfchen kommt, dann wird aus einer hochfliegenden Idee etwas Habhaftes, Großes. Auch wenn Konstanze Vernon noch der Generation angehörte, die ihre Zöglinge tunlichst von der realen Welt fern halten wollte: "Tänzer bleiben doch immer Kinder", sagte sie allen Ernstes. In den Jahren unter Ivan Liška durften und sollten sie erwachsen werden und auch selber denken. Aber: "Ich hab sie nicht gefragt, ob sie glücklich sind", sagt der. Denn im Mittelpunkt stand stets der Wille, gute Vorstellungen abzuliefern. Unter Liška erfüllte sich zwischen 1998 und 2016, woran Vernon noch gelegentlich verzweifelte: "Alle Choreografen, die auch nur auf einem Bein stehen können, also auch die Jungen, haben es nicht nötig, nach München zu kommen", sagte sie in einem SZ-Interview im Februar 1991. Sie kamen dann doch, wenn auch vielleicht viel später und dann immer noch nicht mit Kreationen fürs Haus. Sie kamen, geködert von Bettina Wagner-Bergelt, die von Vernon fürs moderne Repertoire geholt worden war und bei Liška zur stellvertretenden Ballettdirektorin avancierte neben Wolfgang Oberender, dem Spezialisten für die großen Klassikerrekonstruktionen.

Auch am Bayerischen Staatsballett konnte der internationale Aufbruch des zeitgenössischen Tanzes in den Achtzigerjahren, vorwiegend in der freien Szene, nicht ignoriert werden. Neben den Granden unter den Zeitgenossen Hans van Manen und Jiří Kylián, dem Revoluzzer William Forsythe, war es damals etwa Saburo Teshigawara und ist es heute zum Beispiel Sharon Eyal, die dem Staatsballett ihre Stücke anvertrau(t)en.

Auf Liška folgte Igor Zelensky. (Foto: Wilfried Hösl)

Man will ja Igor Zelensky und seinem Ensemble nicht die Feierlaune verderben, sondern eher Diskussionen und Kampfgeist neu beflügeln. Denn Vernons radikale Forderung ist bisher unerfüllt: "Die Loslösung von der Oper muss absolut sein." Das hieße im Klartext: allen derzeitigen tollen Synergien einen harten Schnitt. Und eine zusätzliche Bühne. Und es hätte zur Folge, den Etat des Staatsballetts ganz neu zu berechnen. Die Zahl der Tänzerstellen von maximal 70 ist seit Jahren gleichgeblieben, ebenso wie die Anzahl der Vorstellungen mit etwa 70 pro Spielzeit. Zelensky, der sich im Gegensatz zu den Theater- und Opernchefs nach wie vor nur Direktor und nicht Intendant nennen darf, fordert seit seinem Amtsantritt 2016 aber deutlich mehr Tänzerstellen und Vorstellungen. Er sollte darauf bestehen.

August Everding hatte einst das Prinzregententheater primär als Haus für den Tanz renovieren lassen. Das ließ die Exballerina Vernon als Ballettchefin tagträumen von 40 Abenden in der Oper und 100 Abenden im Prinzregententheater sowie einer Partnerschaft mit anderen autonomen Ballettkompanien, etwa mit John Neumeiers Hamburg Ballett. Mit den Hamburgern hat Zelensky ja längst angebandelt. Wie wäre es mit einer Kooperation mit dem New York City Ballet oder einer russischen Kompanie? Auch - und mehr als aktuell - im Prinzregententheater. Groß denken hat ja noch nie geschadet.

Filmische Erinnerungen an 30 Jahre Bayerisches Staatsballe tt , Stream am Sonntag, 25. April, 19.30 Uhr, unter staatsoper.tv

© SZ vom 24.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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