200 Jahre Oktoberfest:Von der Wiesn aufs Schlachtfeld

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"Nie wieder Krieg, nur Maßkrüg'": Die Überlieferung zeichnet das erste Oktoberfest im Jahre 1810 als eine Idylle. Doch in derselben Zeit ließen Zehntausende bayerische Soldaten ihr Leben.

Hans Kratzer

Als München vor 200 Jahren, ohne es zu ahnen, das erste Oktoberfest erlebt hat, war die Stadt erfüllt von einem milden Herbstwetter. Aus einer verschwenderischen Laune heraus durchglühte die Sonne noch einmal die Häuser und die engen Gassen. Noch heute atmen die alten Bilder und Berichte über den ersten Ansturm auf die Theresienwiese eine fröhliche Leichtigkeit, gerade so, als habe Spitzweg ein romantisches Idyll hingemalt.

Der Akademieschüler Peter Heß dokumentierte das Pferderennen vom Oktober 1810. Das zeitgenössische Blatt benennt erstmals die "Theresens-Wiese", und es spricht bereits von den "October-Festen". In der Mitte das Königszelt. Das Bild entstammt der Festschrift "Das Oktoberfest 1810-2010", erschienen in der SZ-Edition. (Foto: Münchner Stadtmuseum/oh)

Schon in seiner Geburtsstunde gaukelt uns das Oktoberfest also die Illusion einer heimeligen Puppenkistenwelt vor, die aus nichts zu bestehen scheint als aus einem weiß-blauen Himmel, fröhlichen Untertanen und einem gütigen Monarchen. Das Spektakel sei "unter dem größten Jubel einer unermesslichen Volksmenge und bei der erwünschtesten Witterung" über die Bühne gegangen, notierte die Allgemeine Zeitung über das berühmte Pferderennen des 17. Oktober 1810, das gleichsam als Ouvertüre des Oktoberfests in die Geschichte eingegangen ist.

Heute, 200 Jahre später, wird diese Ur-Wiesn mehr denn je wie ein friedliches Schlaraffenland voller Hendl, Zuckerwatte und Dunkelbier gezeichnet. Von den Schattenseiten hört und sieht man nichts - die Oktoberfestbücher blenden fast alles aus, was den schönen Schein verfinstern könnte.

Vielleicht hilft ja die hohe Literatur weiter, um das Oktoberfest in seiner ganzen Fülle zu erfassen. Ödön von Horvath hat die liebliche Zeichnung des Gemütlichkeitsfestes in dem Drama Kasimir und Karoline mit wenigen Federstrichen zerkritzelt. Nach einem Oktoberfestbesuch lässt er die Karoline sagen: "Man hat halt oft so eine Sehnsucht - und dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln." Es ist wohl eine der schönsten Metaphern, die das Oktoberfest je hervorgebracht hat. Die gebrochenen Flügel dürften selbst einem Bierdimpfl zu Herzen gehen, mag er dieses Bild auch mehr mit dem Schichtl verknüpfen, dem alten Kopfabschneider, der sich wie in einem Totentanz zwischen Gickerlbraterei und Krinoline hineinzwängt und im Angesicht der Ausschweifung die Vergänglichkeit aller irdischen Lust beschwört.

Freilich, ohne solche Kontraste wäre München nicht München, nicht umsonst ist die Stadt in diesem Spannungsfeld zum hochkulturellen "Isar-Athen" aufgestiegen, aber auch zur Hauptstadt der Bewegung. Kehren wir aber zurück ins Jahr 1810 und zur Frage, ob damals wirklich alles eitel Sonnenschein war. Lugte nicht von Anfang an hinter der Bühne der Lebenslust bereits die eine oder andere Fratze hervor?

München schnaufte in jenem Oktober 1810 ein paar Tage durch, der Namenstag des Königs und die Hochzeit des Kronprinzen verdrängten quälende Sorgen. Das Königreich Bayern steckte in einer tiefen Not, das ist sicher, mag uns die Festliteratur noch so sehr das fröhliche Volksfest zeichnen und das Pferderennen anlässlich der Vermählung des Kronprinzen Ludwig mit der lieblich anzuschauenden Prinzessin Therese, die erst kurz vor der Hochzeit aus dem Duodezfürstentum Sachsen-Hildburghausen nach München gereist war.

Ihre Reise hat durch ein verstörtes Land geführt. Es ist die Zeit, in der König Max I. Joseph, Ludwigs Vater, mit seinen Regimentern von einem Feldzug in den nächsten gehetzt wurde. In nur 16 Jahren focht Bayern sieben Kriege aus. An der Seite Napoleons kämpften die Bayern 1806/07 gegen Preußen, 1809 gegen Österreich, 1812 gegen Russland und 1813 dann gegen den alten Bündnispartner Frankreich. Ausgerechnet in diesen Tagen des Kanonenrauchs, des Soldatengeschreis und des Massensterbens ist das Oktoberfest entstanden. Zwar kam Bayern, als in Paris wieder einmal die Beute verteilt wurde, nicht schlecht weg, es erhielt Salzburg, Berchtesgaden, das Innviertel, dazu Bayreuth und Regensburg.

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Wer aber die fröhlichen Bilder vom Oktober 1810 betrachtet, der muss sich immer auch die Schlachtfelder dazudenken, egal ob im niederbayerischen Eggmühl oder in den Steppen Russlands, auf denen die bayerischen Soldaten in den Jahren vor und nach dem ersten Oktoberfest jämmerlich krepierten. Zehntausende Jünglinge durften ihre Lippen nicht mehr an die steinernen Maßkrüge mit dem braunen Winterbier führen.

Umso mehr ließen es die Daheimgebliebenen krachen. Das Herrscherhaus hatte wegen der Vermählung des Kronprinzen in der Stadt ein Fest spendiert, bei dem die Schützengarde aufmarschierte und die Straßen illuminiert waren. Die Allgemeine Zeitung hielt fest, dass "32.000 Maas Bier, 8000 Maas Wein, 32.000 Portionen Brod, 16.000 Portionen Braten, 4000 Käse, 8000 Cervelatwürste und 16.000 Paar geräucherte Würste" verteilt wurden.

Nicht zu vergessen jene 6000 Bürger, die auf den Bällen verpflegt, ja gemästet wurden, was sowohl die Neigung der Münchner zur Völlerei als auch ihre Liebe zum Königshaus festigte. Aus kulinarischer Sicht flackert hier durchaus schon das große Fressen und Saufen auf den heutigen Oktoberfesten auf.

Den Münchner Lohnkutscher Franz Baumgartner, der damals in der Kavalleriedivision der Nationalgarde diente, erfüllten diese militärischen und monarchischen Umtriebe mit vaterländischem Stolz. Er schlug vor, die Hochzeitsfeierlichkeiten mit einem Pferderennen zu krönen, was ja einer uralten Münchner Tradition entsprach. Bei seinem Kommandanten, dem Major Andreas Dall'Armi, rannte Baumgartner damit offene Türen ein. Er erwirkte beim König die Genehmigung, "hinter dem neuen Spital bis an die Dorfschaft Sendling" eine Rennbahn errichten zu dürfen.

Am 17.Oktober 1810, nachmittags um zwei Uhr, wurde das Rennen dort gestartet, der Abhang des Sendlinger Berges diente fast 50.000 Besuchern als Tribüne. Für die königliche Familie war ein eigener Pavillon aufgebaut worden, den der Kurfürst Max Emanuel einst den Türken abgeluchst hatte. Streng genommen, war also das erste Wiesnzelt eine Kriegsbeute, was unser Bild von der Doppelköpfigkeit der Wiesn geradewegs bestätigt.

Die beiden Halbmonde, die das Zelt bekrönten, können in der aktuellen Oktoberfestausstellung des Münchner Stadtmuseums gebührend bestaunt werden. Am Tag nach dem Rennen verkündete Dall'Armi seinen Kameraden, dass ihm das Königshaus gestattet habe, den Rennplatz "Theresens-Wiese" zu nennen. Das Wort erwies sich freilich als ein Zungenbrecher, weshalb die Münchner das Gelände alsbald Theresienwiese nannten.

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Redaktion

Diese ehrwürdige Fläche gilt als der größte Schatz der 200-jährigen Oktoberfestgeschichte. Wie durch ein Wunder hat die Stadt München das Fest nie verlegt, wurde das Gelände nie bebaut, weshalb das Oktoberfest wie eh und je auf dem Areal der Pferderennen von 1810 abgehalten wird. Auf dem aktuellen Stadtplan springt einem immer noch die ovale Form der Rennbahn ins Auge.

Zweifellos ist es dem Major Dall'Armi zu verdanken, dass das Rennen von 1810 kein einmaliges Ereignis blieb und schließlich als Oktoberfest fortgesetzt wurde, mag es auch 1813 bereits ausgefallen sein - natürlich wegen eines Krieges. Über die Ereignisse von 1810 ließ Dall'Armi eine von ihm selbst verfasste Beschreibung drucken. Darin ist die berühmte Äußerung des Kronprinzen Ludwig festgehalten, der die ersten Oktoberfeste in erster Linie als bayerische Nationalfeste betrachtete: "Volksfeste freuen mich besonders. Sie sprechen den Nationalcharakter aus, der sich auf Kinder und Kindeskinder vererbt."

Erst nachdem München anno 1818 das kommunale Selbstverwaltungsrecht zugesprochen wurde, ist daraus ein spezielles Münchner Fest geworden. Die Stadt übernahm nun die alleinige organisatorische und finanzielle Verantwortung, und das hat sich bis heute nicht geändert. Gleichwohl inszenierte die Stadt die Wiesn bis 1913 als Huldigung an das Haus Wittelsbach - dann kam der Krieg, der das vorläufige Aus für die Wiesn brachte, aber das endgültige Aus für das bayerische Königshaus.

Die Bayern haben den Verlust der Monarchie nie ganz überwunden, die Fortdauer des Oktoberfests aber milderte ihren Schmerz. Wenn da nicht schon wieder ein neuer Krieg gewesen wäre. "Nie wieder Krieg, nur Maßkrüg'", lautete um 1960 herum eine häufig gehörte Forderung auf dem Oktoberfest. Aber die Hoffnung auf eine Wiesn ohne Gewalt erfüllte sich nicht. Ein Terroranschlag im Jahr 1980 brachte Tod und Verderben über das Fest, was aber den Trend zum schrillen Wiesn-Wahnsinn heutiger Tage nicht verhinderte. Armeen von Kampftrinkern besetzen seither die Wiesnzelte.

Zum Glück führen sie ihren Freiheitskampf nicht mehr mit Schießgewehren, sondern mit Brezen, Gickerl und zehn Maß Bier, aufgestachelt vom Stakkato der Stimmungskapellen, die ihre Salven lautstark ins wogende Volk feuern. Umso trauriger ist es, dass die Theresienwiese vor 200 Jahren, als die Kriegsfurie über Bayern hinwegzog, für Zehntausende eine so heitere und offene Bühne bot, während sie heute, in Zeiten von Frieden und Freiheit, wegen der Terrorgefahr zur Festung ausgebaut werden muss.

© SZ vom 06.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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