Corona:Ärger ja, Panik nein

Lesezeit: 2 min

Spahns Vorstoß für eine dritte Impfung suggeriert, dass der Impfschutz auch für die Jüngeren früh nachlassen könnte. (Foto: Axel Heimken/dpa)

Dritte Impfung wegen vierter Welle? Jens Spahns Aufruf dazu führt in die Irre. Und er verdeckt die wahren Versäumnisse der Politik.

Kommentar von Werner Bartens

Keine Panik. Die Anzahl der Infizierten steigt seit Wochen kontinuierlich, die Inzidenz liegt in einigen Kommunen wieder deutlich jenseits von 100. Der Beginn der vierten Welle ist kaum noch zu leugnen. Dennoch: Das gegenwärtige Infektionsgeschehen ist nicht mit dem der vorherigen Wellen zu vergleichen.

Mittlerweile sind 59 Prozent der Menschen in Deutschland vollständig geimpft, in der Altersgruppe über 60 liegt der Anteil bei 82 Prozent. Ein Blick auf jene Regionen mit Spitzenwerten in der Sieben-Tage-Inzidenz - in Bayern hat Rosenheim die Führung inne - zeigt zudem, dass weit mehr als 90 Prozent der Infizierten nicht geimpft waren oder noch nicht über vollständigen Impfschutz verfügten. Das unterstreicht erneut, wie wichtig die Impfung ist und dass es trotz des bisherigen Erfolgs der Impfkampagne darauf ankommt, die Zögernden und Zweifelnden zu gewinnen, um auch in den jüngeren Altersgruppen auf eine Impfquote von 80, besser 85 Prozent zu kommen.

Jetzt sind viele geimpft - früher nicht

Keine Panik. Zwar hat sich der Anstieg der Inzidenz in den vergangenen Tagen erstaunlich beschleunigt, doch noch bleibt die Zahl der Intensivpatienten und Todesfälle vergleichsweise stabil. Nun ist zwar seit Frühjahr 2020 bekannt, dass diese beiden Kennziffern jeweils der Inzidenz um drei, vier Wochen hinterherhinken. Trotzdem besteht Grund zur Zuversicht, dass sich der Trend fortsetzt, wonach es mit mehr Impfungen immer seltener schwere Verläufe gibt. Die Zahl der Impfdurchbrüche, also der Infektionen trotz vollständiger Impfung, ist jedenfalls weiterhin verschwindend gering.

Kein Grund zur Panik also - Anlass zum Ärger hingegen schon. Wenn Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) die dritte Impfung für alle in Aussicht stellt, dann ist das ein falsches Signal. Er suggeriert damit, dass der Schutz für die bereits Geimpften schnell nachlassen oder jedenfalls nicht ausreichen könnte. Dafür spricht wenig, gerade erst hat Charité-Virologe Christian Drosten betont, dass der Schutz gegen Sars-CoV-2 besser sei als der nach manch anderen Impfungen (wie etwa jener gegen die Grippe). Allenfalls für die Hochbetagten kann eine solche Booster-Impfung bald angeraten sein. Doch wenn die Inzidenz vor allem aufgrund der Infektion von Nichtgeimpften steigt, gilt es, zuvörderst diese Gruppe zu mobilisieren - und nicht den bereits Geschützten eine Auffrischimpfung nahezulegen.

Wieder zeigt sich, woran es in Deutschland fehlt

Anlass zum Ärger besteht zudem, weil noch immer unklar ist, wie viele Menschen in Deutschland geimpft worden sind. Das Meldesystem ist lückenhaft. Erst waren die Inzidenzberichte, die per Fax von Gesundheitsämtern verschickt wurden, zum Symbol des Dilettantismus geworden. Nun zeigt sich, wie fehlerhaft der Impffortschritt dokumentiert wird. Um eine Bedrohung einzuschätzen, braucht es aber einen Überblick über die Gefahr. Um die Impfstoffverteilung zu planen, muss man wissen, wie viel Vakzin nötig ist. Zudem fehlen weiterhin Daten darüber, welche Bevölkerungs- und Berufsgruppen vergleichsweise wenig geimpft wurden. Die braucht man aber, um gezielter Angebote machen zu können.

Diese Versäumnisse verhindern, dass die Pandemie noch effektiver bekämpft wird. Eine genauere Meldung und Dokumentation wurde schon im Sommer 2020 gefordert, bessere Erkenntnisse über die soziale Dimension der Seuche ebenfalls. Von der Politik wurden diese Themen vernachlässigt. Das halbgare Angebot zur Booster-Impfung für alle kann den Mangel nicht verdecken. Ärgerlich.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alle Meldungen zur aktuellen Situation in der Ukraine und weltweit - im SZ am Morgen und SZ am Abend. Unser Nachrichten-Newsletter bringt Sie zweimal täglich auf den neuesten Stand. Hier kostenlos anmelden.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: