Fußball-EM:Und das will Europa sein?

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Vor Gazprom-Werbung: Der Italiener Andrea Belotti beim Spiel gegen Spanien. (Foto: Justin Tallis - Pool/Getty Images)

Um zu erkennen, in welcher Krise der Kontinent steckt, muss man nur die Bandenwerbung betrachten. Auch eine andere große Show neulich war vor allem dies: ein Dokument der Selbstverachtung.

Kommentar von Nils Minkmar

Die Bilder, mit denen sich Europa in diesem Jahr selbst darstellt, sind Ausdruck einer tiefen Krise. Das eben zu Ende gehende Fußballturnier trägt den Begriff zwar im Namen, von europäischen Werten, europäischer Souveränität oder Solidarität war aber nichts zu merken. Die Bürgerinnen und Bürger der Union haben anderthalb Jahre lang schwere Opfer gebracht, um durch die Pandemie zu kommen, doch der Europäische Fußballverband (Uefa) hat diese Anstrengungen verhöhnt: Volle Stadien, maskenlose Massen, die davor und danach singend die Zonen vor den Stadien bevölkerten, ansteigende Ansteckungszahlen durch die neue Variante - das war ein einziger Mittelfinger an alle, die in Europa so hart und oft vergeblich gegen Corona gekämpft haben.

Wundern kann einen das nicht, denn die Bandenwerbung des vom Geld verseuchten Turniers machte restlos klar, was hier empfohlen wird: die Produkte des russischen Energieversorgers Gazprom, Flugreisen mit Qatar Airways und das Bezahlsystem Alipay der chinesischen Alibaba-Gruppe - Firmen aus Ländern, in denen Wirtschaft nah am jeweiligen Regime ist, das wiederum jeweils von den Werten, Idealen und Standards in Europa maximal weit entfernt ist.

Die EM ist keine Kultur-, sondern eine Verkaufsveranstaltung

Das europäische Turnier macht in jedem Bild Werbung für die Wirtschaft geschlossener Gesellschaften - mehr symbolische Selbstverleugnung kann man sich kaum ausdenken. Als wäre es gleichgültig, wie sich Europa sportlich und in solchen großen Fernsehmomenten präsentiert, als wäre das, was Europa historisch ausmacht - die offene Gesellschaft, die Menschen- und Bürgerrechte, das Bemühen um eine Partnerschaft zwischen Kapital und Arbeit - bloß eine Option, und wenn jemand Werbung für das Gegenteil machen möchte, dann ist das nur eine Frage des Preises. Wenn sich Kinder und Jugendliche in diesem Sommer vor einem Bildschirm versammeln, um das europäische Turnier zu sehen, dann erfahren sie wenig von den Besonderheiten der Europäischen Union, verfolgen vielmehr eine coronavergessene Verkaufsveranstaltung, in der die Fans die Nationalhymnen der anderen ausbuhen. Wäre Europa eine Marke und die Uefa ein Franchisenehmer, müsste man die Lizenz zurückfordern.

Aber nicht nur der notorisch unsympathische Profifußballverband verfehlt es, Europa ins richtige Bild zu setzen und symbolisch abzubilden. Auch die andere große Show des Frühjahrs, der Eurovision Song Contest, geriet zum unfreiwilligen Zeugnis der großen europäischen Selbstverachtung. Es war ein Fernsehabend, den man sofort vergessen wollte: Die Songs wirkten wie von Algorithmen komponiert, Versatzstücke von kommerziell erfolgreichem Zeug, dass erneut zusammengerührt wurde, auf dass wieder Geld damit verdient wird. Die Idee, dass Musik und Kunst Sphären von eigenem, symbolischem Wert sind und nicht nur Produkte - das ist eine spezifisch europäische Errungenschaft. Sie entstand aus der Geschichte der bürgerlichen Öffentlichkeit, die sich der höfischen Kultur bemächtigte und nach und nach die Figur des unabhängigen Künstlers hervorbrachte, für den der so wichtige Grundwert der Kunstfreiheit gilt. Es sind eben keine Funktionäre von Hitfirmen, die auftreten.

Und dann der ESC im Mai: Hatte sich überhaupt jemand etwas dabei gedacht?

Doch an jenem Abend im Mai war vom Autor- und Autorinnengedanken, von der Autonomie der Musik, nichts mehr zu spüren. Die Sängerinnen und Sänger wirkten, als hätten sie eine Wette verloren und müssten nun an diesem Abend mitwirken. Allein der deutsche Beitrag, in spontaner kollektiver Blitzverdrängung dem verdienten ewigen Vergessen überantwortet, zeugte von großer Gleichgültigkeit gegenüber der guten Tradition des ESC. War er witzig gemeint? Hatte sich überhaupt jemand etwas dabei gedacht? Momente der Wahrheit entstanden allenfalls dann, wenn die früheren Gewinner des Wettbewerbs noch einmal kurz zu sehen und zu hören waren. Mit einigen verbanden sich echte Erinnerungen, eine Geschichte -man nahm eine Intention wahr, und sei es die, gut zu unterhalten, gut zu spielen, fröhlich Musik zu machen.

Niemand, der sich den ganzen langen Abend angetan hat, wird hier etwas von Europa, der europäischen Tradition des Chansons, der Songs, Lieder und Canzone entdecken können, sondern erleichtert gewesen sein, als der konfuse Zirkus vorbei war. Solche Nachlässigkeit und Lieblosigkeit zeitigt langfristige kulturelle Folgen. Schon Kinder lernen in den USA die Begeisterung für die großen Paraden in New York oder die Nacht der Oscar-Verleihung. In Frankreich konnten Alt und Jung das festliche Treppensteigen vor dem Filmpalast in Cannes anschauen und im Laufe des Sommers durch die Übertragung von der Tour de France die Provinzen besuchen.

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Wie man anfangen müsste, wenn man zu seinen Werten finden möchte

Es sind glanzvolle, liebevoll gestaltete Großveranstaltungen und dramatische Fernsehmomente, die auch der kulturellen Selbstvergewisserung dienen, einer Pädagogik des Zusammenhalts, der gemeinsamen Geschichte, und die eine Quelle gemeinsamer Erfahrungen bilden. Europa vergibt sich diese Chance. Die großen Veranstaltungen fallen in keine politische Zuständigkeit, es gibt keine ambitionierte europäische Kulturpolitik, die es in der Hand hätte, sommerliche Events, Momente und Erinnerungen zu organisieren, die eben nicht nur eine dreidimensionale Fortführung des digitalen Kapitalismus mit den Mitteln von Sport und Kultur sind.

Das sind keine Randbetrachtungen. Natürlich gibt es noch krassere Versäumnisse, die europäische Flüchtlingsabschreckung, die Grausamkeit an den Außengrenzen und der anhaltende Skandal der ertrinkenden Menschen im Mittelmeer. Aber wenn Europa zu sich, seinen Werten finden möchte, eines Tages, auch mit denen, die heute noch als junge Menschen am Bildschirm lernen, was das sein könnte, ein Europa des Humanismus und der Kultur, dann beginnt der Weg dorthin mit den Bildern, die Europa von sich selbst entwirft. Und umgekehrt befördert eine weiterhin nachlässige Inszenierung europäischer Events den Weg in die geopolitische Irrelevanz. Zumindest auf dem Feld der Kultur aber könnte, sollte das anders sein.

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