Oberammergau:Dieser Sehnsuchtsort

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Und wieder erfüllen sie das Gelübde von 1634: Der Oberammergauer Frederik Mayet spielt den Jesus, andere Dorfbewohner verkörpern seine Jünger. (Foto: Angelika Warmuth/dpa)

Die Passionsspiele wurzeln in einer Zeit, in der eine Kirche das war, was heute ein Multiplex-Kino ist. Und diese Spiele erfüllen ein wohl ewiges Bedürfnis.

Kommentar von Hans Kratzer

Dass sich der Weltenlauf in seinen Irrungen und Wirrungen auch im Kleinen abbilden lässt, beweisen die am Wochenende eröffneten Passionsspiele in Oberammergau ganz eindrücklich. Mehr denn je steht die alle zehn Jahre neu inszenierte Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu für die Suche nach einer Antwort auf eine Welt voller Krisen und Kriege. Und man muss schon ein kaltes Herz haben, um am Ende nicht berührt zu werden von dem lodernden Feuer, das die verlassene Bühne erhellt - als kleines Licht der Hoffnung.

Oberammergau hat nach zwölf Jahren Festspielpause eine umjubelte Premiere hingelegt. Immer stärker wachsen Aufwand und Eifer, das vor fast 400 Jahren abgelegte Gelübde eines Passionsspiels zu erfüllen. Damals sah das Dorf darin seine letzte Hoffnung, von der Geißel der Pest erlöst zu werden, und in der Dorfchronik ist festgehalten, dass dies gelungen ist.

Dieser Hang zum Musischen und zum Theatralischen

Ein Kontinuum wie dieses Spiel ist selten geworden in der modernen Welt, in der viele Traditionen wie Kartenhäuser zusammenstürzen. Selbst in einem ehedem tief katholischen Land wie Bayern verlieren religiöse Bräuche und Rituale ihre einst lebensprägende Dominanz im Eiltempo.

Allerdings weist die Geschichte der Oberammergauer Passion längst über die Belange der Religion hinaus. Ausgehend von der Leidensgeschichte Christi wirft sie ein Licht auf das Streben des Menschen, sich in seiner rätselhaften Existenz zurechtzufinden. Auf der Suche nach Antworten offenbart gerade der Süden des Landes - im Gegensatz zum eher nüchternen protestantischen Norden - einen tiefen Hang zum Musischen und Theatralischen.

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Einst wurde vor allem die Schaulust der Menschen in den Kirchen befriedigt. Sie waren so etwas wie die Multiplexe der Barockzeit, ihre Pracht musste einfachen Menschen, die in windschiefen Hütten hausten, wie das Paradies vorkommen. Die Prozessionen, die Wallfahrten und die Gelübde bescherten ihnen ein sinnliches Erlebnis, das ihre Ängste und Sorgen dämpfte in Zeiten, in denen Arztbesuch und Rundumversorgung noch eine Utopie waren und jede Erkältung den Tod bringen konnte. Wundersam ist auch, wie derb und anzüglich es auf den Deckenfresken herging, und es mangelte nicht an frechen Putten, die dem Betrachter der Altarwand ganz leger den Vogel zeigen.

Heute: Bau von Straßen. Früher: Bau von Kirchen

Das Volk in seiner Bedrängnis strömte jahrhundertelang dorthin, wo sich Wunder zugetragen und Menschen Rettung erfahren hatten. Orte wie Andechs, Ettal und Altötting verzeichneten bis zu 50 000 Pilger am Tag, und bald strahlte der Ruhm dieser Wallfahrtsorte in die ganze Welt hinaus. Wer die Votivbilder studiert, dem begegnet auf Schritt und Tritt das Elend dieser Welt, aber auch die Errettung aus Gefahr. Es klingt sonderbar, aber jenes Geld, das heute in Kanalisation, Straßenbau und Breitbandversorgung fließt, wurde damals für den Bau jener Kirchen verwendet, in denen Heil zu erwarten war.

Kontinuitäten wie jene in Oberammergau sind gar nicht so selten. Als im Salzburger Land ebenfalls die Pest wütete, gelobten Menschen dort, sie wollten zu der entferntesten Kirche pilgern, die von ihrem höchsten Baum aus zu sehen war. Seitdem tragen sie alle hundert Jahre riesige Kerzen in eine Rottaler Kirche.

Oder blicken wir auf die Wallfahrtskirche Maria Kulm in der tschechischen Diözese Pilsen, wo der Anteil der Katholiken so gering ist wie kaum irgendwo auf der christlichen Welt. Auch aus Bayern pilgerten Scharen von Wallfahrern dorthin, ungeachtet der Hussiten-Einfälle, des Dreißigjährigen Kriegs, des Naziterrors. Als 1989 der Eiserne Vorhang fiel, nahmen die Menschen die Tradition sofort wieder auf, während die Einheimischen ungläubig den Kopf schüttelten.

Ein Dorf mit 242 Kandidaten - für den Gemeinderat

Ähnlich hartnäckig hielten sich die Passionsspiele. In mehr als 300 Dörfern in Bayern und Tirol wurden sie gepflegt, bis sie 1770 verboten wurden, weil sie mit dem Geist der Aufklärung unvereinbar waren. In Oberammergau überlebte die Passion wohl nur deshalb, weil man schmerzhafte Veränderungen akzeptiert hat. Der Spielleiter Christian Stückl musste freilich 30 Jahre lang gewaltig kämpfen, um das Spiel trotz heftiger Widerstände zu modernisieren. Denn auch die Streitlust ist im Ort tief verankert. 242 Kandidaten sollen sich einmal für ein Amt im Gemeinderat beworben haben. Zieht man München als Vergleich heran, entspräche das einer Zahl von mehr als 80 000 Stadtratskandidaten.

Dass sie mit so großer Lust zanken, schadet den Oberammergauern jedoch nicht. Vielmehr scheint der Streit ihren Zusammenhalt zu stärken - und ihre Neigung, das Passionsspiel in eine Zukunft zu führen, in der auch der säkulare Mensch Halt und Sinn suchen wird. So rasch Glaube und Religion auch erodieren, so bleibt ein Bedürfnis nach sinnhaften Erlebnissen, die mit dem Intellekt nicht zu erfassen sind. Von dieser Sehnsucht wird das Phänomen Oberammergau wohl noch lange zehren.

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