Von Beginn an ist das Pipeline-Projekt Nord Stream 2 begleitet gewesen von einem gehörigen Maß an Realitätsverweigerung. Zunächst tat die schwarz-rote Bundesregierung so, als handele es sich bei der neuen Gasleitung durch die Ostsee um ein rein wirtschaftliches Vorhaben. Erst, als die Konflikte innerhalb der Europäischen Union, mit der Ukraine und mit den USA nicht mehr zu ignorieren waren, räumte Bundeskanzlerin Angela Merkel geopolitische Nebenwirkungen ein. Seit es nun einen Kompromiss mit den USA gibt und die Pipeline fertig ist, tut die noch amtierende Bundesregierung so, als habe sich das Problem in Luft aufgelöst. Dabei ist es noch da. Unübersehbar liegt es auf dem Tisch bei den Koalitionsverhandlungen.
Mit ihrer Feststellung, Nord Stream 2 dürfe keine Betriebsgenehmigung erhalten, hat Grünen-Chefin Annalena Baerbock allerdings weniger Klarheit bewirkt, als es den Anschein hat. Die Betriebsgenehmigung wird nämlich weder von der noch amtierenden noch von der künftigen Bundesregierung erteilt. Sie hängt davon ab, ob EU-Regeln eingehalten sind. Zu befinden hat darüber die Bundesnetzagentur. SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat deshalb schon zu verstehen gegeben, dass hier doch eigentlich nur noch das Behördenverfahren seinen Lauf nehmen muss.
Doch ganz so ist das nicht. Natürlich ist es in dem Verfahren nicht egal, ob die künftige Bundesregierung Nord Stream 2 als harmlose Pipeline einstuft oder als Gefahr für die europäische Energiesicherheit. Außerdem müssen sich die Koalitionäre Gedanken darüber machen, wie sie ein Versprechen der noch amtierenden Bundesregierung einzulösen gedenken. Diese hat zugesagt, die Ukraine zu unterstützen und es Russland nicht durchgehen zu lassen, falls es Energie als Waffe einsetzt. Grüne und FDP haben im Wahlkampf eine klare Haltung gegenüber Moskau verlangt. In den Koalitionsverhandlungen können sie zeigen, was sie damit meinen.