Japan:Dunkle Träume

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Streitet für Aufrüstung: Japans Premierminister Fumio Kishida (hier auf dem G-7-Gipfel in Elmau am 26. Juni 2022). (Foto: LUKAS BARTH/REUTERS)

Trotz ihres großen Wahlsiegs stehen die Konservativen vor unsicheren Zeiten. Der Mord an ihrem Vordenker Shinzō Abe zeigt, wie sehr es im Land gärt - und wie vieles sich bald ändern muss.

Kommentar von Thomas Hahn

Jubel und Trauer, Erfolg und Verunsicherung: Es sind komplizierte Zeiten für die Konservativen in Japan. Einerseits hat die von ihnen gestellte Regierungspartei LDP bei der Oberhauswahl gerade mit anderen rechten Kräften eine Zweidrittelmehrheit errungen, mit der sie die Änderung der pazifistischen Verfassung anschieben kann. Ihr alter Traum wird damit wahr. Andererseits ist gerade ihr Vordenker Shinzō Abe erschossen worden. Und zwar nicht von einem gewalttätigen Linksradikalen. Sondern von einem frustrierten Ex-Marinesoldaten, der das Gefühl hatte, nichts mehr zu verlieren zu haben. Ein Albtraum ist wahr geworden.

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Wie passt das zusammen? Dieser Erfolg des nationalistischen Establishments? Und dieses Attentat aus der Mitte der so gepriesenen Nation?

Die LDP könnte eine bessere Partei werden und Japan ein besseres Land, wenn sie sich diesen Fragen ernsthaft stellen würde. Aber wahrscheinlich fürchtet sie die Antworten. Zurückschauen, aufarbeiten, sich selbstkritisch hinterfragen - das sind keine Stärken von Leuten, die im Grunde nur ihren eigenen Stolz und die Wirtschaft wichtig nehmen.

Rache für den Frust

Und in diesem Fall liegt ja der Verdacht nahe, dass die LDP-Regierenden, vor allem Shinzō Abe, immer so viel an nationale Großartigkeit und Geld gedacht haben, dass sie dabei die Nöte vieler Menschen aus dem Blick verloren haben. Tetsuya Yamagami, der 41-jährige Todesschütze, ist jedenfalls nicht der erste japanische Mann, der keinen Grund mehr sah, nicht zu töten. Es gab in der jüngeren Vergangenheit zahlreiche verstörende Fälle von Messerstechern oder Brandstiftern, die einfach loszogen, um sich für ihren Frust zu rächen. Warum? Bisher gibt es in Japan keine große öffentliche Debatte dazu. Man befasst sich lieber mit offensichtlicheren Themen, vor allem mit Sicherheitsmängeln. Das ist auch wichtig, natürlich. Der Schutz von Shinzō Abe bei seiner Wahlkampfrede auf einem Bahnhofsvorplatz von Nara war eindeutig mangelhaft. Aber das erklärt nicht, warum ein Normaljapaner eine Waffe baut, damit gezielt zu einer Veranstaltung geht und ohne Skrupel einen Menschen erschießt, dem er die Mitschuld daran gibt, dass seine Mutter so viel Geld an eine religiöse Organisation gespendet hat.

Japan ist eine Kollektivgesellschaft. Jeder erledigt darin seinen Job, damit das große Ganze funktioniert und niemand gestört wird. Diese Disziplin hat Japan anderen Ländern voraus. Das Leben dort läuft relativ reibungslos. Allerdings interessieren sich viele Menschen in Japan tatsächlich fast nur für den Job, den sie im Dienste der Kollektivgesellschaft zu tun haben, nicht aber für gesellschaftliche Debatten, Minderheiten, Nachbarn oder Ähnliches.

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Von Thomas Hahn

Wer anders oder erfolglos ist, sich den Regeln und Hierarchien nicht anpasst, ist in diesem System sehr schnell sehr einsam. Es gibt kaum Zufluchtsorte, um über persönliche Nöte oder Themen zu sprechen. Die Moral des Shinto-Landes ist seltsam vage. Und der LDP-Staat kümmert sich traditionell wenig um soziale Probleme und Brüche. So kann eine gesellschaftliche Kälte entstehen, in der manchen Menschen der Sinn des Lebens abhandenkommt und einzelne von ihnen gefährliche Ideen entwickeln.

Die gefährlichen Nachbarn

Japans Regierung sollte den Mord an Shinzō Abe deshalb zum Anlass nehmen, über ihre Menschen nachzudenken. Wie geht es ihnen? Was machen sie? Was brauchen sie? Brauchen sie wirklich eine Änderung der pazifistischen Verfassung und einen verdoppelten Rüstungsetat?

Die Antwort auf letztere Frage ist übrigens nicht zwingend Nein. Die Welt ist in Unruhe. Russlands Angriff auf die Ukraine zeigt, dass man autoritären Staaten nicht trauen kann. Als Nachbar von China und Nordkorea braucht Japan ein glaubwürdiges Abschreckungspotenzial. Und das Verteidigungsministerium in Tokio riskiert mit seinen Rüstungsbeschaffungen jetzt schon Konflikte mit besagter Verfassung.

Aber wenn die Änderung der Verfassung wirklich kommt, muss sich diese rechte Regierung auch endlich schmerzhaften Fragen stellen. Wer Raketen anschafft, hat auch mehr Verantwortung. Japans LDP-Regierung macht seit Jahren nicht den Eindruck, als wolle sie nachhaltig die Rolle Japans als Aggressor im Zweiten Weltkrieg aufarbeiten - die ja die Ursache dafür ist, dass sich das Land nach 1945 diese pazifistische Verfassung gab, die jetzt verändert werden soll. Das muss sich ändern, andernfalls wird aus der Verfassungsreform eine Provokation für China und Korea, die damals extrem unter der Kolonialmacht Japan gelitten haben.

Interesse an den Gefühlen anderer - darum geht es, nach außen wie nach innen. Japan ist ein wichtiger Partner der internationalen Gemeinschaft. Der fortschreitende Rechtsruck dort ist deshalb nicht nur ein Problem für die schwindende Mitte-links-Opposition im Inselstaat. Aber die LDP-Regierung kann den schlechten Eindruck ja widerlegen. Die umfassende Aufarbeitung des Mordes an Shinzō Abe wäre ein Anfang.

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