Europa:"Weiter so" ist keine Option

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Jetzt reden die Bürgerinnen und Bürger der EU: Auf einer Zukunftskonferenz können sie ihre Erwartungen an die Gemeinschaft einbringen. Das ist dringend nötig, um einige Missverständnisse auszuräumen.

Von Matthias Kolb

Am 9. Mai soll es losgehen mit der "Konferenz für die Zukunft Europas". Mit einem Jahr Verspätung beginnt das große Projekt, bei dem Bürgerinnen und Bürger ihre Erwartungen an die Europäische Union formulieren sollen. Dass die Auftaktveranstaltung im Europaparlament in Straßburg abgehalten wird, ist folgerichtig: Denn es liegt an den EU-Abgeordneten, dass dieses wichtige Vorhaben nicht durch die Risikoscheu vieler Regierungen weiter verzögert wird oder zur Pflichtübung verkommt. Selten war es so wichtig, dass möglichst viele Europäer ergebnisoffen über die EU sowie deren Strukturen und Prioritäten diskutieren. Allein die wegen der Klimakrise nötigen Reduktionen der Treibhausgase werden bis 2030 zu einem Umbau von Wirtschaft und Alltag führen, dessen Ausmaß enorm ist. Ein "Weiter so" ist keine Option.

Fraglos hat die Pandemie Schwachstellen aufgedeckt: Weil sich 27 Länder abstimmen müssen, ist die EU oft behäbig und bürokratisch. Es bleibt richtig, dass die Kommission die Beschaffung der Impfstoffe für alle organisiert hat, wodurch Estland die gleichen Konditionen erhält wie Frankreich. Aber weil Gesundheitspolitik nicht zu den Kompetenzen der EU gehört, fehlte es in der Kommission an Expertise und Kontakten in die Pharmabranche, was einige Probleme rund um den Impfstart zu erklären vermag.

Allerdings hat Corona auch gezeigt, wie die Erwartungen an die EU gestiegen sind. Dass Gesundheitspolitik bisher in die Zuständigkeit der Mitgliedsländer fällt, interessiert die Menschen zwischen Dublin und Thessaloniki nicht: Sie verlangen abgestimmte und verständliche Lösungen. Natürlich lief vieles nicht rund bei der zentralen Beschaffung der Vakzine, aber viel Verunsicherung entstand auch durch die schlechte Kommunikation: Zunächst wurden zu große Erwartungen geweckt, dann gab es kaum Erklärungen für die Verzögerungen. Dies macht es Regierungen leicht, Verantwortung abzuschieben nach dem bewährten Prinzip "Für Erfolge haben wir in der Hauptstadt gesorgt, schuld am Scheitern sind immer die Brüsseler Bürokraten" .

Bedroht die soziale Ungleichheit in der Union das gemeinsame Projekt?

Die Zukunftskonferenz bietet den Bürgern die Chance, die Machtarchitektur der EU kennenzulernen und zu hinterfragen. Drängende Fragen gibt es genug: Sind wir bereit, auf Wohlstand zu verzichten, um Menschenrechtsverletzungen in China zu ahnden? Bedroht die soziale Ungleichheit das gemeinsame Projekt, weil osteuropäische Ärzte nur im Westen ihre Zukunft sehen? Kann die EU glaubwürdig für demokratische Werte eintreten, wenn einige Mitglieder die Unabhängigkeit von Gerichten untergraben? Das Bewusstsein, dass es nicht nur ein Problem der Polen oder Malteser ist, wenn bei ihnen der Rechtsstaat nicht immer funktioniert, wächst nicht nur in Deutschland. Und denjenigen, die etwa in Ungarn gegen Viktor Orbán und dessen Ziel einer "illiberalen Demokratie" oder in Bulgarien gegen Korruption demonstrieren, kann die Zukunftskonferenz zeigen, dass sie nicht allein sind.

Welche Vorschläge 2022 vorgelegt werden, kann heute niemand wissen. Der Erfolg der Konferenz sollte nicht daran gemessen werden, ob es etwa gelingt, das Spitzenkandidatenprinzip zu retten, das das Ergebnis der Europawahl mit dem Chefposten der EU-Kommission verknüpft. Wenn das Projekt dazu beiträgt, mehr Interesse an den Sorgen und Hoffnungen der Mitbürger jenseits der Grenzen des eigenen Landes zu wecken, wäre viel erreicht. Denn selbst für das große Deutschland gilt: Ohne die EU gibt es keine Chance, das 21. Jahrhundert zu beeinflussen.

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