Flüchtlingsdrama:Soll man? Darf man?

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Was für ein Elend am Rand der EU: vorne die Migranten auf belarussischem Gebiet, hinten polnische Beamte, die sie abwehren. (Foto: BelTA/via REUTERS)

Es geht nicht, alle von Lukaschenko herangelockten Menschen in die EU zu holen. Es geht aber auch nicht, sie da hocken zu lassen. Ein Lehrstück über den Umgang mit Erpressern.

Kommentar von Matthias Drobinski

Es zerreißt einem das Herz, wenn man die Bilder sieht: Menschen, hin und her getrieben im Niemandsland zwischen Polen und Belarus, die dreckiges Wasser trinken und Laub essen, bedroht vom Erfrierungstod, darunter Kinder, Schwangere, Kranke. Es packt einen der Zorn, wenn man weiß, warum diese Menschen in ihrer elenden Lage sind: Alexander Lukaschenko hat sich als Oberschleuser betätigt; sein Geheimdienst hat die Menschen aus den Krisenregionen der Welt angelockt, sie um ihr letztes bisschen Geld gebracht und dann in die Wälder an die Grenze zur EU getrieben, von wo aus Polens Polizei und Militär sie zurücktreiben. Der Diktator in Minsk will die EU erpressen, damit sie die Sanktionen gegen ihn zurücknimmt; er will seine Macht sichern. Vielleicht gehört es zu den Vergnügungen solcher Autokraten, mit Menschen zu spielen.

In der Auseinandersetzung der EU mit dem Diktator zeigt sich eine Asymmetrie, die jeder Geiselnahme innewohnt und die gerade viele Menschen so erschüttert wie hilflos auf die Bilder von der Grenze schauen lässt: Der Geiselnehmer kalkuliert mit der Moralität des Erpressten. Er bringt ihn ins Dilemma, aus dem dieser nicht mehr sauber herauskommt: Den anderen sterben lassen? Oder der Unmoral des Erpressers nachgeben?

Für die EU gibt es drei Möglichkeiten der Reaktion

Lukaschenko, der Erpresser, weiß, welches Gegenüber er in der EU hat: eines, das sich zur Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet hat, das den Schutz der Menschenwürde als staatliche Pflicht ansieht, dessen Öffentlichkeit Fernsehbilder eines Elends nur schwer erträgt, das sich sonst verborgen auf dem Mittelmeer abspielt. Und für die EU gibt es nur drei Möglichkeiten der Reaktion, alle mit unvertretbar hohen Kosten: Sie kann einen neuen Eisernen Vorhang errichten, mit Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl, und auf die Humanität pfeifen. Oder sie kann dem Diktator nachgeben, ihre Sanktionen und damit alle Unterstützung der belarussischen Opposition ad acta legen. Oder sie kann, wie das radikale Flüchtlingsunterstützer fordern, alle Grenzen zur Fiktion erklären - mit allen Folgen für die Gesellschaften in den Herkunfts- und Ankunftsländern.

Auf die Wahl zwischen solchen Alternativen aber war und ist die EU schlecht eingestellt. Lukaschenko, der Erpresser, weiß auch, dass er einer Gemeinschaft gegenübersteht, die in der Migrationspolitik tief gespalten ist und deren ethische Selbstverpflichtung und moralischer Anspruch nicht absolut sind, ja, dass da längst auch Bigotterie dabei ist. Europa befällt die blinde Panik, wenn ein Autokrat ein paar Tausend Migranten an die Grenze karrt; durchaus zu Recht muss Polen fürchten, alleingelassen zu werden wie zuvor Italien und Griechenland. Und auch das Gerede vom "hybriden Krieg", in dem Menschen zu Waffen werden, hat Lukaschenkos Drohung groß und mächtig gemacht sowie diese Menschen zur Existenzbedrohung Europas stilisiert - wo es doch eher um eine besonders perfide Form der Staatskriminalität geht; es hat die durchs Grenzgebiet Irrenden entmenschlicht.

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Der Anspruch, die Lebenslügen, die Bigotterie

Europa ist auch erpressbar, weil die ins Irrationale überkochende Angst vor einer Wiederholung der Ereignisse von 2015 jeden realistischen wie humanitären Umgang mit Flucht und Migration unmöglich macht; weil die Halbherzigkeiten, die Widersprüche und Lebenslügen des Europas, das das Gute und die Moral für sich in Anspruch nimmt, nur allzu offensichtlich sind. Um das unvermeidliche Dilemma der Erpressung auszuhalten, bräuchte es aber Einigkeit, innere Stärke, einen Kompass, der durchs momentane Dickicht führt. Es bräuchte eine gemeinsame Migrationspolitik, die legale Wege zur Einwanderung öffnet, jenseits des Asylrechts. Es bräuchte ein gemeinsames europäisches Grenzregiment, das schnell auf ankommende Geflüchtete reagiert, faire Asyl- und Aufnahmeverfahren garantiert, aber auch schnell klärt, wer nicht bleiben kann. Es bräuchte eine konsequente Bekämpfung der Fluchtursachen, Projekte des fairen Teilens, nicht der symbolischen Hilfe. Weitere Erpressungsversuche aus der Nachbarschaft wird das nicht verhindern - aber wohl den angemessenen Umgang mit ihnen möglich machen.

Der Erpressung ausgesetzt zu sein, bedeutet ja nicht, hilflos zu sein. Der Druck der EU auf die Fluglinien, die Migranten nach Belarus fliegen, zeigt inzwischen Wirkung; einen Stopp des Gastransfers dürfte Russland verhindern - und auch die Gespräche Angela Merkels mit Lukaschenko dürften wirken. Im besten Fall hat sich der Diktator verzockt. Spätestens jetzt aber muss die EU auf Polen einwirken, dass an der Grenze keine Menschen mehr zurückgeprügelt werden, dass sie einen Asylantrag stellen können, dass Hilfsorganisationen sich um sie kümmern. Wolfgang Schäuble hat das soeben gefordert, ein CDU-Politiker, der als Inbegriff des Realpolitikers gilt. Er hat recht, denn auch das macht Europas Stärke aus: die Humanität nicht drangeben, das Dilemma aushalten, sich das Herz zerreißen lassen. Ohne den Verstand zu verlieren.

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