Gerichtsurteil zu "Me Too"-Vorwürfen:Auf das Wie kommt es an

Lesezeit: 2 min

Ein Teilerfolg: Juliane Löffler ("Buzzfeed") vor dem Kammergericht in Berlin Schöneberg. (Foto: Verena Mayer)

Das Berliner Kammergericht hält die Berichterstattung im Falle von "Vice" und "Buzzfeed" über mutmaßliche sexuelle Übergriffe für zulässig - in Teilen.

Von Verena Mayer

Dass es zu den wichtigsten Aufgaben der Presse gehört, Missstände aufzudecken - darüber besteht Einigkeit. Differenzen gibt es jedoch bei der Frage, wie man das tut. Im Fall eines Arztes etwa, dem von mehreren Patienten vorgeworfen wird, er sei während medizinischer Untersuchungen übergriffig geworden. Seit mehr als einem Jahr beschäftigt die Berichterstattung darüber die Gerichte.

Es geht um einen auf sexuell übertragbare Krankheiten spezialisierten Arzt in Berlin. In den vergangenen Jahrzehnten hat er Tausende Patienten behandelt und sich einen Namen als erfahrener Mediziner gemacht, der besonders gut auf die Bedürfnisse von LGBT-Patienten einzugehen weiß. Etlichen Männern soll er dabei über die Jahre allerdings zu nahe gekommen sein, mit sexuell übergriffigen Bemerkungen oder Handlungen. Bereits 2013 leitete die Ärztekammer ein berufsrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Arzt ein, 2014 begann auch die Berliner Staatsanwaltschaft zu ermitteln, zu einem Prozess kam es aber noch nicht.

Dann passierte lange nichts - bis zur "Me Too"-Debatte. Nicht nur Frauen gingen damals mit Erlebnissen sexueller Übergriffe an die Öffentlichkeit, sondern auch einige Männer. Wie die fünf Patienten des Berliner Mediziners, die sich 2019 den Online-Medien Buzzfeed und Vice anvertrauten. Die beiden recherchierten damals gemeinsam und schrieben mehrere Artikel über den Arzt. Es finden sich viele Schilderungen von Untersuchungen im Intimbereich in den Texten und davon, wie diese nach Meinung der Patienten in sexuelle Übergriffe ausarteten.

"Man kann nicht alles untersagen", sagte die Vorsitzende - allerdings gebe es Grenzen

Der Arzt fühlte sich dadurch vorverurteilt und in seiner beruflichen Existenz bedroht, er forderte Unterlassung. Das Berliner Landgericht sah das genauso - die Artikel mussten offline genommen und durften nicht mehr verbreitet werden. Die Journalisten gingen in Berufung, am Donnerstag landete der Fall vor dem Berliner Kammergericht. Im Gerichtssaal wurde dann klar, dass es hier nicht nur um einen Ausläufer der "Me Too"-Debatte geht. Sondern auch um ganz grundsätzliche Fragen der Pressefreiheit.

Für das Kammergericht geht diese sehr weit, "man kann nicht alles untersagen", so die Vorsitzende Richterin. Zwar sei die sogenannte Verdachtsberichterstattung, also Anschuldigungen, die noch nicht durch Gerichte geklärt wurden, heikel, "es bleibt immer etwas hängen bei solchen Sachen". Aber es gebe in dem Fall eben auch ein berechtigtes öffentliches Interesse. Zudem hätten die Journalisten zahlreiche Belege zusammengetragen. Zumindest Teile der Artikel hält die Vorsitzende daher für zulässig.

Wo liegt die Grenze zwischen einem Übergriff und medizinischer Routine?

Allerdings gebe es auch Grenzen, und die beginnen für die Vorsitzende dort, wo Werturteile getroffen werden, etwa durch die Wahl der Begriffe, mit denen Patienten den Arzt in einem Artikel bezeichnen. Auch die äußerst langen und detailreichen Schilderungen von Berührungen im Intimbereich werden vor Gericht lange diskutiert. Für die Journalisten sind sie wichtig: Es gehe um Grenzverletzung, den Punkt, an dem normale Untersuchungen in missbräuchliche Berührungen übergegangen seien. Diese könne man nur sichtbar machen, wenn das Geschehen deutlich beschrieben werde. Der Anwalt des Arztes sagte, dass viele der als Übergriffe empfundenen Handlungen schlicht medizinische Routine gewesen seien. Auch hätten die Journalisten den Arzt zwar mit den Vorwürfen der Patienten konfrontiert, allerdings ohne konkret zu werden und ihm die Namen der Patienten zu sagen. Die hätte er aber gebraucht, um in seinen Akten nachzusehen und seine jeweiligen Handlungen medizinisch zu begründen.

Die Vorsitzende nennt den Fall "singulär". Zwar gehört es zum Alltag von investigativen Journalisten, wegen Berichterstattung angegriffen zu werden, die den Betroffenen nicht gefällt. Sexuelle Übergriffe spielen sich aber in der Regel in verschlossenen Räumen zwischen zwei Menschen ab, die das Geschehene jeweils völlig anders interpretieren, und die dementsprechend schwer objektiv zu belegen sind. Das Berliner Kammergericht hat nun entschieden, dass man solche Dinge zwar an die Öffentlichkeit bringen darf, es aber in jedem Einzelfall auf das Wie ankommt. Die "Me Too"-Debatte wird die Gerichte also noch länger beschäftigen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Me-Too-Berichterstattung
:Viele Worte für einen Missbrauchsverdacht

Die Portale "Buzzfeed" und "Vice" schreiben über einen Arzt, der Patienten sexuell missbraucht haben soll. Ein Gericht hält die Berichterstattung für unzulässig - trotz erheblichen öffentlichen Interesses.

Von Hannah Beitzer

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: