Gewalt in Serien:Blood-Stream

Medien Illustration Brutale Serien im Streaming

Was uns früher im Fernsehen schockierte, scheint heute für uns kein Problem mehr. Immer brutalere und blutigere Serien und Filme haben daran ihren Anteil. Illustration: Alper Özer

Durchtrennte Kehlen, gefolterte Körper: Zwischen "Game of Thrones" und "Killing Eve" stellt sich empfindsamen Zuschauern durchaus die Frage: Warum tut man sich so eine Serie nur an?

Von Christian Mayer

Eve Polastri ermittelt im Auftrag des britischen Geheimdienstes, sie ist einer russischen Serienkillerin auf der Spur, aber sie hat noch ein ganz anderes Problem: Sie kann nicht abschalten. Als ihr Mann, ein sehr verständnisvoller Softie, eines Abends wissen will, was eigentlich mit ihr los ist, entwickelt sich ein Frage-Antwort-Spiel zwischen den beiden. Wie würdest du mich töten, wenn du keine andere Wahl hättest? Der Mann murmelt etwas von "zu Tode lieben". Eve sagt emotionslos: "Ich würde dich mit Saxitoxin betäuben und ersticke dich im Schlaf, ich zerhacke dich in kleine Stücke und koche alles ein, stecke es in den Mixer und dann spül ich dich in der Arbeit in der Toilette runter."

Killing Eve heißt die neue Serie, in der Sandra Oh, bekannt aus Grey's Anatomy, die MI5-Agentin spielt und Jodie Comer ihre Widersacherin. Der kurze Dialog über das Töten wirkt wie eine Ouvertüre: Eve Polastri folgt der Blutspur, die die schöne Villanelle in London, Wien, Paris, Berlin und Moskau hinterlässt. Welches Geheimnis Villanelle antreibt, wer die Auftraggeber sind und welche Verbindungen es zum britischen und russischen Geheimdienst gibt, sind die Rätsel der ersten Staffel.

Einmal sieht man sie, wie sie Eves besten Kollegen in einen Berliner Club lockt, an den ekstatisch Tanzenden vorbei in eine jedes Geräusch absorbierende Technofalle. Jetzt kann Villanelle unbemerkt zustechen, mit einer obszönen Lüsternheit, die man nicht so schnell vergisst. Keine Frage: Diese Frau versteht ihr Handwerk, ob mit der Haarnadel, dem Gift-Parfüm oder der Maschinenpistole.

Als Zuschauer, der beim "Schweigen der Lämmer" Ohren und Augen schließen musste und bis vor wenigen Jahren selbst beim Tatort oft zusammenzuckte, verfolgt man das Geschehen in Killing Eve mit Interesse, aber ohne das Herzrasen, das sich früher automatisch eingestellt hätte. Irgendwas fehlt, trotz des ziemlich zeitgemäßen Ansatzes, auch bei den psychisch gestörten Auftrags- und Serienkillern endlich Gendergerechtigkeit herzustellen. Aber wo bleibt die emotionale Wucht, das eigene Erschrecken, der Angststrom, den man früher noch bis zum Erzittern gespürt hat, wenn es besonders brutal wurde auf dem Bildschirm? Zählt man jetzt endlich auch zu den abgestumpften Streaming-Opfern?

Die Website "Serienjunkies" hat eine Liste der "brutalsten TV-Serien der Welt" erstellt, die bei Netflix und anderen Anbietern verfügbar sind. Eine Serie wie Killing Eve wirkt dagegen so harmlos wie das Nachmittagsprogramm bei Kika: In American Horror Story gehören "Nekrophilie, gespaltene Köpfe und drapierte Organe" zur Grundausstattung. In Dexter zeigte man gehäutete Menschen und Container voller Körperteile. Die Serie The Walking Dead begeistert Horrorfans seit neun Staffeln mit dem Kampf der letzten Menschen gegen die Untoten, die als apokalyptische Nager und Sauger quer durch das entvölkerte Land ziehen.

Game of Thrones als ultimatives Anpassungstraining, auch für die Sensiblen

Und weil das Ganze dermaßen erfolgreich ist, läuft auf Netflix ab dem 11. April eine weitere Zombie-Serie mit dem Titel Black Summer. Was man dabei erwarten darf? Noch mehr Verwesung und jede Menge Hackfleisch, eher grob geschnitten.

Wie kaum eine andere Serie hat Game of Thrones, das große Epos nach den Romanen von George R.R. Martin, dazu beigetragen, die Sehgewohnheiten zu verändern. Ab dem 15. April läuft die achte und letzte Staffel dieses Spektakels, das ein äußerst tristes Menschenbild zeichnet: Ähnlich wie bei Shakespeare sind die Mächtigen nur am Machterhalt und Machterwerb interessiert, während die wenigen Guten versuchen, sich zwischen vielen Frontlinien zu bewegen, ohne ins Messer zu laufen.

Die Welt ist ein böser, hasserfüllter Ort, und Game of Thrones das ultimative Anpassungstraining auch für sensiblere Zuschauer, die Folge für Folge enthemmt werden. Bis sie dann bereit sind für die extremeren Folgen wie "Der Regen von Castamaer" in der dritten Staffel: die Inszenierung einer Bluthochzeit im Hause des rachsüchtigen Lord Frey, ein expressionistisches Gemetzel, bei dem auch der König des Nordens, Robb Stark, und seine schwangere Frau Talisa abgestochen werden, nachdem sie sich gerade noch ihrer gegenseitigen Liebe versichert haben.

In solchen Momenten vor dem Fernseher stellt man sich die simple Frage: Warum tue ich mir das eigentlich an? Brauche ich das als Mutprobe oder Aufputschmittel? Bin ich jetzt selbst schon ein Zombie, so kurz vor dem Schlafengehen? Und warum verbieten wir unseren Kindern Gewaltvideos und beobachten argwöhnisch, was sie im Internet zu sehen bekommen, wenn wir selbst nicht genug kriegen von durchtrennten Kehlen und gefolterten Körpern?

Was wir früher als verstörend empfanden, wirkt heute oft banal

Wer an diesen Punkt der Selbstreflexion gelangt, kann der Streaming-Hölle vielleicht gerade noch entkommen. Doch Vorsicht: Die bösen Geister melden sich sofort zurück, sobald man das Gerät aktiviert - ganz vorne bei den empfohlenen "Serien-Highlights" zwinkern einem gleich wieder die sadistischen Massenmörder zu. Also für sensible Menschen: Lieber gar nicht erst in diese Todeszone zappen, wenn man eine geruhsame Nacht haben will, so wie früher nach Onkel Wickerts Tagesthemen.

Tobias Greitemeyer ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Innsbruck und serienaffin - er mag sowohl die alten Staffeln von Mad Men, schaut aber auch mal Game of Thrones, so wie seine Studenten. "Man kann die Feststellung treffen, dass Menschen, die gerne aggressive Computerspiele spielen oder gewalttätige Serien anschauen, ein höheres Aggressionslevel haben als andere", sagt der Wissenschaftler. Wer sich diesen Bildern regelmäßig aussetzt, für den werden sie ein Stück weit normal - "es kommt zu einem Abstumpfungseffekt, einer Desensibilisierung. Die Normen verschieben sich."

Es stimmt ja auch: Was wir früher als verstörend empfanden, wirkt heute oft banal, auch weil Szenen extremer Gewalt in Mainstream-Fernsehfilme eingesickert sind. Bei so vielen Opfern geht die Empathie verloren, vor allem dann, wenn wir nicht mehr mit den Figuren mitleiden können, weil ohnehin alles so schnell zu Ende geht. Allein deshalb war die Bluthochzeit mit dem gemeuchelten Robb Stark, der zuvor in mehreren Folgen von Game of Thrones als Kämpfer für das Gute und Identifikationsfigur aufgebaut worden war, tatsächlich noch ein Ereignis, das viele Fans wütend machte. Was eben nur gelingt, wenn es auch ein halbwegs glaubwürdiges Psychodrama gibt.

Die immer größeren Blutlachen wirken, als hätte jemand einfach nur Farbe auf die Leinwand geklatscht

Die deutsch-österreichische Sky-Serie Der Pass über einen narzisstischen Serienkiller setzt auf diesen Effekt: Als Zuschauer verfolgt man wie gebannt die verzweifelte Jagd nach dem Täter, weil man die Seelennöte und Traumata der Ermittler fast schon physisch spürt. Dafür braucht man einen Schauspieler wie Nicolas Ofczarek, der vorführt, was mit Menschen passiert, wenn sie berufsmäßig nur noch mit grauenhaften Gewaltverbrechen zu tun haben: Sie werden entweder zum Zyniker oder zum Alkoholiker, manchmal auch beides.

Beim Anblick der immer größeren Blutlachen, der immer groteskeren Fließband-Schlachtungen muss man an die Epigonen des amerikanischen Künstlers Jackson Pollock denken, die versucht haben, seine Action Paintings zu imitieren, indem sie einfach nur Farbe auf eine Leinwand klatschten, in der Hoffnung, Kunst zu produzieren. Ein in jeder Hinsicht abschreckendes Beispiel ist der Film Polar, eine aktuelle Netflix-Produktion, die sich der Splatterfilm-Ästhetik bedient, aber gleichzeitig ein cooler Thriller sein will.

Mads Mikkelsen spielt darin einen Auftragskiller, der sich auf seinen gut bezahlten Ruhestand freut, aber noch einmal gegen eine ganze Mörderbande antreten muss, die Mikkelsens alte Firma bestellt hat, um Pensionskosten zu sparen. In dieser Comic-Verfilmung des Musikvideo-Regisseurs Jonas Åkerlund droht nun endgültig keine Gefahr mehr, dass man vor dem Abspielgerät den Atem anhält, dazu ist das Schauspiel zu erbärmlich. Mord ist hier nur noch ein Spiel für Ballermänner und Knallerfrauen, allerdings ohne die absurde Komik, die etwa Quentin Tarantino in seinen früheren Filmen zelebriert.

Und Eve Polastri, die britische Agentin, die keine Zeit mehr hat für ihren langweiligen Mann? Sie kommt nicht mehr los von ihrer Lieblingskillerin, sie folgt der Spur des Blutes. Bis sie dann vielleicht sogar selbst auf den Geschmack kommt.

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