Kurz nach Mittag war klar, dass diese Wahl das werden würde, womit keiner rechnete: spannend. Weder die auf ganz unterschiedliche Art langweiligen Vorträge der beiden Kandidaten in der Mainzer Rheingoldhalle hatten darauf hingedeutet, noch die Tatsache, dass die Fernsehratsvorsitzende Marlehn Thieme zwischen den Wahlgängen unbeeindruckt weitere Tagesordnungspunkte durcharbeiten ließ wie "Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Vielfalt in den ZDF-Angeboten". Draußen schipperten die Lastenkähne den Rhein herunter, man konnte den Eindruck haben, die Wahl eines Nachfolgers für den im März scheidenden Intendanten Thomas Bellut laufe so nebenbei ab.
Im ersten Wahlgang hatten weder Tina Hassel, die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, noch Norbert Himmler, Programmdirektor des ZDF, die nötigen 36 der 60 Stimmen im Fernsehrat erhalten. Sie bekam 24, er 34 Stimmen, bei zwei Enthaltungen. Auch das: nicht überraschend. Der im ZDF erfahrene Himmler war der Favorit, Hassel kam im Juni plötzlich als Kandidatin des sogenannten roten Freundeskreises ins Rennen, der wenig Chancen ausgerechnet wurden.
Eine Dreiviertelstunde später war es vorbei mit dem ruhigen langen Fluss, nach dem zweiten Wahlgang trennten Hassel und Himmler nur noch vier Stimmen, irgendwie schien jetzt alles möglich, alles offen, alles unberechenbar. Dass einer der beiden Kandidaten an diesem Tag noch eine Dreifünftelmehrheit bekommen würde, undenkbar.
Es hat im ZDF schon Wahlen gegeben, die in so einer Konstellation mit Intendanten endeten, die am Morgen desselben Tages noch gar nicht kandidiert hatten. Belluts Vorgänger Markus Schächter kam so ins Amt. Auf der Betonplatte vor der Halle während der Sitzungspause: Ratlosigkeit.
Und dann sagt Hassel: "Ich werde an dieser Stelle das Rennen beenden."
Tina Hassel hat, soviel kann man sagen, diese Wahl entschieden, als sie kurz vor 13 Uhr ans Mikrofon trat, so entspannt wirkte wie den ganzen Vormittag über nicht, und im Moment der größten Stärke ihren Rückzug erklärte. "Ich werde an dieser Stelle das Rennen beenden", sagte sie. Himmler und sie wollten das Gleiche: einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk. "Eine Wahl mit echten Alternativen ist die Krone der Demokratie. Insofern reite ich sehr erhobenen Hauptes hier vom Hofe".
Sie danke allen Unterstützern, gratulierte Himmler und ritt sozusagen davon. Im dritten Wahlgang bekam Himmler überwältigende 57 der 60 Stimmen, ein einziges Herzchenwerfen, und war wieder der Konsenskandidat, der er auch schon vor Hassels Auftauchen gewesen ist. Himmler starte mit "viel Rückenwind", sagte Fernsehratschefin Thieme bei der anschließenden Pressekonferenz. Himmler sagte, dass er glücklich sei. Man kann in so einer Situation ja nicht einfach so sagen, wie gut, dass meine Karriere und Wünsche nicht zerschossen wurden.
Als er sich und seine Pläne für das ZDF am Vormittag dem Gremium vorgestellt hatte - nach dem Alphabet als Zweiter und nach Tina Hassel - war er selbstbewusst, relativ frei im Vortrag, eher knapp als weitschweifig aufgetreten. Ein ZDF für alle wolle er, den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern und mit den Zuschauern noch mehr ins Gespräch kommen. Mutiger solle der Sender werden, auf Innovation setzen, Diversität auch bei der Belegschaft in allen Bereichen verwirklichen. Für die Geschäftsleitung strebe er dabei nach Möglichkeit Parität an. Er wolle auch, da bewegte sich der Programmchef Himmler in seinem ureigenen Bereich, der erste Ansprechpartner für die Kreativen in Deutschland sein. Man könne gegen die scheinbar übermächtigen Streamingdienste bestehen, erklärte er und schloss immer wieder mit dem Satz: "Daran können Sie mich 2025 messen." Kurz stand er auch mal mit der Hand in der Hosentasche hinter dem Pult, genau die lässige Haltung, die man von Vorgänger Bellut kennt.
Himmler kann sich natürlich nur wenig abgrenzen gegen den Sender, wie er heute ist, dazu ist er schon zu lange als Hierarch dabei und redet auch so, selbst wenn er als Programmdirektor mit der verrückten kreativen Branche viel zu tun hat. Deshalb war der Moment bemerkenswert, in dem er eine Spur Pathos zeigte. "Ich identifiziere mich mit dem ZDF, ich brenne für dieses Haus und für seinen Auftrag", sagte Himmler. Und er werde den Sender "wenn nötig auch verteidigen". Das lässt Raum für Spekulationen, was gemeint war - die neuen Feinde des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Oder der alte politische Proporz bei der Postenbesetzung? Es wirkte jedenfalls eindrucksvoll.
Hassel wählte von Anfang an einen emotionaleren Zugang, sprach bei ihrer in ZDF-Orange unterlegten Kurzpräsentation über das "was ich mit dem ZDF vorhätte" von Aufmerksamkeitsraketen, die der öffentlich-rechtliche Rundfunk zünden und von dem "Raum für das Wir", den das ZDF bieten müsse, von der "Einsamkeitsepidemie" der Gegenwart. Gut wahrnehmbar waren ihre Angebote an die Konservativen, als sie für einen modernen Heimatbegriff warb und sogar den früheren BR-Intendanten Ulrich Wilhelm und seinen Entwurf einer europäischen digitalen Plattform herbeizitierte. Vielleicht hatte sie das in den letzten Tagen zu vielen Menschen zu oft erklären müssen, jedenfalls fing sie gegen Ende ihres erschreckend unaufgeregten Vortrags ganz leicht an zu nuscheln.
Nachfolge für ZDF-Intendant Bellut:Nur zwei?
Tina Hassel gegen Norbert Himmler: Der Tag der Wahl im ZDF steht fest.
Das Schöne bei der Wahl in Mainz war auch, dass man einmal die sogenannten Freundeskreise leibhaftig sehen konnte, die im ZDF-Fernsehrat neuerdings viel Wert darauf legen, überparteilich zu sein. Der schwarze, geleitet vom ehemaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung, CDU, versammelte sich in der Pause nach dem ersten Wahlgang hinter einem Absperrband auf der Terrasse vor der Halle. Der rote, von Verdi-Chef Frank Werneke geleitet, beriet sich im Sitzungssaal. Das ist deshalb bemerkenswert, weil ansonsten alle an diesem Tag so taten, als gebe es diese Lagerbildung nicht in dem mächtigen Aufsichtsgremium. Und als läge es außerhalb der Möglichkeiten, dass Hassels Rückzug mit Zugeständnissen des schwarzen an den roten Freundeskreis verbunden gewesen sein könnte. Mit ihrer Präsentation dürfte sie sich zumindest empfohlen haben für andere demnächst zu besetzende Ämter im öffentlich-rechtlichen Kosmos.
In den vergangenen Wochen war auch immer wieder spekuliert worden, ob der Preis dafür, dass der rote Freundeskreis Himmler am Ende passieren lasse, politische Einflussnahme auf die Besetzung der nächstes Jahr anstehenden Nachfolge von ZDF-Chefredakteur Peter Frey sein könnte. Der Personalie muss der Verwaltungsrat des Senders zustimmen, vorschlagen muss sie allerdings der Intendant, und es ist nach diesem Wahltag eine abenteuerliche Vorstellung, dass Himmler Hassel zum Posten als Chefredakteurin verhelfen könnte, ohne wie jemand zu wirken, der sein Amt einem politischen Deal verdankt. Er selbst wies es nach der Wahl von sich, dass nun Erwartungen von politischer Seite auf ihn zukommen könnten. Er rechne "mit Erwartungen des ganzen Fernsehrats", sagte er, aber weder er noch Tina Hassel hätten sich, wenn er sie recht verstanden habe, als Kandidaten eines Freundeskreises betrachtet. "Von daher wird sich die Frage für mich jetzt nicht stellen". Es klang so, als würde er auch dahinter den Slogan setzen: "Daran können Sie mich 2025 messen."