Am letzten Maiwochenende fängt in den USA der Sommer an: die Colleges sind mit ihren Kursen durch, die Schulen schließen bald, die (erhofften) Blockbuster kommen ins Kino, die Ferien beginnen. Der Feiertag am darauffolgenden Montag verlängert das Wochenende, denn es ist Memorial Day, der Tag, an dem das patriotische Amerika seiner Gefallenen aus den Kriegen gedenkt. Zuerst war es nur der Bürgerkrieg, dann kamen die Toten aus den Weltkriegen dazu, Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak. Es ist der Tag der auf Halbmast gesenkten Fahnen, der flachen Hand auf der Brust, der pathetischen Reden über das Opfer, das all die tapferen Männer und Frauen und so weiter.
Die New York Times beging den Fest- und Trauertag diesmal anders, nämlich mit den klassischen Mitteln einer Zeitung: Zum ersten Mal seit Menschengedenken erschien sie mit einer Titelseite ohne Fotos oder Grafiken und füllte sie stattdessen mit Hunderten von zivilen Opfern. Digital weist eine erschreckende Grafik auf die täglich anwachsende Todesbilanz hin. Am 13. März waren es fünfzig, voraussichtlich kommende Woche wird die offizielle Zahl von einhunderttausend Corona-Toten in den USA erreicht sein, also weit mehr als, wie auch die Times immer wieder betont, Amerikaner in Vietnam gestorben sind.
Wie auf dem Denkmal von Maya Ying Lin in Washington ist es nichts weiter als ein schlichtes Verzeichnis der Namen, hier jedoch ergänzt um das Alter, den Herkunftsort und nach Möglichkeit versehen mit Vignetten, die selbst die erbittert Trump-treue Konkurrenz New York Post "herzzerreißend" fand: der 72-jährige James David Gewirtzman aus New York, der "einige seine glücklichsten Stunden beim Wandern in den Adirondacks verbrachte" oder die 98-jährige Josephine Posnanski aus New Jersey, die "gern tanzte", oder der 49-jährige Jesus Roman Melendez aus New York, der "in seiner Familie berühmt für seinen Birria-Eintopf war".
Kein Corona-Opfer wird davon wieder lebendig, doch werden die Toten aus der nüchternen Sterbestatistik gehoben. Die Aktion, die vor einer Woche in ähnlicher Form auch die brasilianische Zeitung O Globo veranstaltet hat, ist natürlich auch ein politisches Statement gegen den amtierenden Präsidenten, dem noch keiner übertriebenes Mitgefühl für irgendjemanden außer für Donald Trump vorgeworfen hat.
Der beging das Gedenkwochenende damit, dass er zum Golfspielen ging.