"New York Times":Die Zeitung als Reisebüro

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Größenwahn? Die "New York Times" spricht derzeit viel über sich selbst. (Foto: BRENDAN MCDERMID/REUTERS)

Kündigungen und prominente Abgänge bei der "New York Times" sorgen für Schlagzeilen. Eine kluge Einordnung dazu kommt aus dem Haus selbst.

Von Aurelie von Blazekovic

"Können wir aufhören, uns über jede Personalentscheidung der New York Times aufzuregen?" titelte ein US-Magazin letztens. "Noch nicht", antwortet Journalist Ben Smith in seiner aktuellen Medienkolumne in der New York Times. Denn die Zeitung nehme einen ungewöhnlich, vielleicht sogar ungesund zentralen Platz in Medien, Kultur und Politik der USA ein, schreibt Smith. Ihr Tun sei mit großer Symbolik aufgeladen.

Wenn eine Publikation so über sich selbst spricht, könnte man das als Größenwahn abtun. Das würde allerdings erstens den tatsächlichen Stellenwert der Zeitung für Politik und Medienlandschaft mit ihren rund 7,5 Millionen (vor allem digitalen) Abonnenten weltweit verkennen. Und zweitens die selbstkritische Offenheit, die Ben Smith pflegt, wenn er in seiner Kolumne über seinen Arbeitgeber und die andauernden personellen Querelen im Haus schreibt.

Smith war Chefredakteur von Buzzfeed News und ist erst seit einem Jahr der Medienkolumnist der Times. Seither hat er regelmäßig die Aufgabe, sich neben den Machenschaften von Fox News und Facebook auch kritisch mit dem eigenen Haus zu befassen. Im vergangenen Jahr machte die New York Times Schlagzeilen, weil ihr Meinungschef nach einem umstrittenen Gastbeitrag eines republikanischen Senators abtreten musste. Dann verließ eine weitere Meinungs-Redakteurin die Zeitung. Nun musste der langjährige Wissenschaftsjournalist Donald McNeil gehen. Ihm wurde offenbar eine von der Times organisierte Studienreise mit Schülern zum Verhängnis, von denen sich einige später über McNeils unsensible Äußerungen beschwerten.

Die Fragen über Identität und politische Haltung der Zeitung seien echt

Ben Smith fasst die Sache so zusammen, angereichert mit internen Details: Auf dem 5500 Dollar teuren Trip nach Peru für "elitäre amerikanische Highschool-Schüler" im Jahr 2019 geriet der kurz vor der Rente stehende Gesundheitsexperte McNeil "in eine Reihe hitziger Auseinandersetzungen" zum Thema Rassismus. McNeil habe das N-Wort gesagt, lautet ein Vorwurf der Jugendlichen, "keiner von ihnen schwarz" , wie Smith schreibt, und wollte sich von den Schülern nicht korrigieren lassen. McNeil selbst äußerte sich bisher nur so, dass man sicher verschiedene Erinnerungen zu Unterhaltungen habe, die so lange zurücklägen.

Smith schreibt, McNeil habe in der Zeitung ohnehin als "schwieriger Charakter" gegolten. Man hätte vielleicht einfach seinen nahenden Ruhestand abgewartet, doch dann kam Corona. Als Wissenschaftsjournalist wurde McNeil in der Pandemie zu einer prominenten Stimme der Times, trat etwa im Podcast der Zeitung, The Daily, als schwarzmalerischer Corona-Experte auf.

Der Fall McNeil ist ein Konflikt zwischen Generationen. "Eine Kollision zwischen der alten Times und der nächsten Generation ihrer Kern-Leserschaft, der gebildeten, global denkenden Elite", schreibt Smith. Zwischen ihnen gibt es Gräben, die offenbar genauso zwischen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Zeitung verlaufen. Es sei zwar löblich, dass die Times versuche, Brücken zu bauen, heißt es in der Kolumne weiter, doch: "Ein Reisebüro zu leiten, das 65-jährige Journalisten mit einem Rudel scharfsinniger Teenager in den buchstäblichen Dschungel stürzt, ist eine Brücke zu weit."

Die Fragen über die Identität und die politische Haltung der Zeitung seien allerdings echt, schreibt Smith. "Ist die Times die führende Zeitung für gleichgesinnte, linksgerichtete Amerikaner? Oder versucht sie die scheinbar schwindende Mitte in einem tief gespaltenen Land zu halten?"

Glaubt man an die Symbolik der New York Times, dürfte das für Macher und Nutzer von Medien weltweit interessant sein.

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