Münchner "Polizeiruf 110":Vertreibung aus dem Paradies

Lesezeit: 1 min

Szenenbild aus dem Müncher "Polizeiruf 110: Kinderparadies" (Foto: BR/EIKON Süd GmbH/Barbara Baurie)

Deprimierend realistisch, verspielt und ironisch, all das ist der neue "Polizeiruf 110" mit dem Titel "Kinderparadies". Politisch unkorrekt spielt der Krimi im Milieu der Helikopter-Eltern. Und folgt dem Prinzip vergangener Polizeirufe: Ein Film muss wehtun.

Von Holger Gertz

Dieser bemerkenswerte Polizeiruf aus München - Regie Leander Haußmann - ist erfreulicherweise politisch unkorrekt, er spielt im Milieu der sogenannten Helikopter-Eltern, deren Gedanken ausschließlich um das Wohl ihrer Kinder kreisen. Menschen also, die sich schwere Gedanken machen über die Vorzüge von Designerwindeln und Frühstförderung im Mutterleib - und die selbstverständlich jedes Gespräch unter Erwachsenen abbrechen, sobald das Kleinstkind brabbelnd in den Dialog eingreift.

"Wir werfen mit Zitronen, mit Erbsen und Kanonen", singen die Eltern bei einem Treffen in der Tagesstätte Kinderparadies, und: "piff paff puff". Sie sitzen auf Kinderstühlen, um sich besser in die Perspektive der Kleinen einfühlen zu können. Sie fragen sich, wie man mit einem Problemkind in der Gruppe umgeht, das andere beißt. Währenddessen wird draußen eine Mutter ermordet, beziehungsweise hingerichtet. So fängt die Geschichte an.

Die Polizeiruf-Macher sind sehr mutig, schon was das Thema angeht. Die Helikoptereltern unter den Zuschauern könnten irritiert sein, weil sie am Sonntag nicht in den Bildschirm schauen werden, sondern in einen Spiegel. Aber ein Film muss wehtun, sonst wirkt er nicht - diesem Prinzip waren schon die vergangenen Münchner Polizeirufe mit Matthias Brandt als Kommissar Hanns von Meuffels verpflichtet.

Pazifistische Großfrucht Melone

In dieser Episode wird bald klar, wie eng die scheinbar behagliche Innenwelt des Kinderparadieses verwoben ist mit der Höllenwelt draußen. Jungeltern, die sich wie Krieger gegenüberstehen, debattieren darüber, ob man die Kanone im Liedtext nicht besser durch die pazifistische Großfrucht Melone ersetzen sollte. Väter, die von sich behaupten, Weltmeister im Wickeln zu sein, schlagen ihre Frauen grün und blau.

"Wir singen oft Wiegenlieder für unsere Kinder, damit wir selbst einschlafen können": Der Satz von Khalil Gibran steht leitmotivisch über einem Drama, das vom Beißen und Gebissenwerden erzählt, auf verschiedenen Ebenen, auch Erzählebenen; in Rückblenden und Reflektionen. Deprimierend realistisch, verspielt auch, ironisch. Ernie und Bert treten in kleinen Rollen auf, die Männer von der Spusi murmeln Kinderlieder unter ihrer Plastikkapuze hervor. Ein Film zum sehen und hören: der blecherne Klang des Babyphones, das Jaulen der Spieluhr mit kaputter Mechanik, ein trauriges Lied von den Apples in Space. Und der Blick der grandiosen Annika Kuhl als Kindergartenleiterin, die ihrem Leben dabei zusieht, wie es langsam zerbricht. Ein Ereignis.

Polizeiruf 110 , ARD, Sonntag, 20.15 Uhr.

© SZ vom 28.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: