Jürgen von der Lippe im Porträt:Die Befreiung eines Bühnenmanns

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Jürgen von der Lippe nach der Aufzeichnung seiner Geburtstagsshow, die am 9. Juni in der ARD ausgestrahlt wird. (Foto: dpa)

"Zur Zeit keine TV-Termine" steht auf der Website von Jürgen von der Lippe. Macht nichts. Demnächst wird er 70 - und tourt weiter. Ein Treffen.

Von Hans Hoff

Die Frage, wann Jürgen von der Lippe denn mit dem Touren Schluss zu machen gedenke, stellt sich nicht. Ein Blick auf seinen Terminplan macht weitere Fragen obsolet. Mehr als 50-mal wird er bis zum Jahresende sein neues Programm "Voll fett" spielen, und direkt danach geht es 2019 weiter mit der umfangreichen Lesereise "Nudel im Wind". Etliche der Vorstellungen sind schon jetzt ausverkauft. Es laufe gut, sagt der Künstler und lächelt hinter seinem Klobrillenbart dieses leise Lächeln, das gelernt hat, sein Glück lieber in der Untertreibung zu suchen als im offenen Triumph.

Jürgen von der Lippe sitzt in einem Café am Kölner Eigelstein. Man kennt den Berliner hier, man mag ihn. Er trägt ein schwarzes T-Shirt und eine grüne Tarnweste der Marke bequem vor schön. Es ist dieser Hausmeisterlook, der es leicht machen würde, ihn zu übersehen - wenn rundherum noch jemand sitzen würde. Doch die erste Etage hat man eigens für ihn reserviert, fürs Interview, das anberaumt wurde, weil er am 8. Juni 70 Jahre alt wird. Für von der Lippe ist das eigentlich kein Anlass zum Feiern, weil 70 werden ja keine Leistung darstellt. Die ultimative Antwort auf die Frage, wie es denn so ist, 70 zu werden, hat vor zwei Jahren Udo Lindenberg gegeben: "Besser als nicht 70 zu werden." Was soll man dem noch hinzufügen?

Lindenberg und Otto werden für ihr Lebenswerk verehrt, von der Lippes nimmt man zur Kenntnis

Nun ja, vielleicht einen kleinen Rückblick auf das Schaffen eines Künstlers, der bis ins neue Jahrtausend hinein Fernsehgeschichte geschrieben hat, der in seinen besten Zeiten an einem Abend 18 Millionen Zuschauer erreichte, der zwei Grimme-Preise sein eigen nennt, der immer noch auf ein treues Publikum verweisen kann, das sich von ihm ein paar Stunden ins Lachen treiben lässt, auch gern mal mit netten Witzen aus dem Untenrumsektor. Zum Rückblick gehört deshalb zwingend auch die Tatsache, dass von der Lippe zeit seiner Karriere ein Ungeliebter war in Feuilletonredaktionen.

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Mit seiner gelegentlichen Vorliebe fürs Schlüpfrige, die in seinen Programmen viel seltener aufblitzt, als man gemeinhin annimmt, macht er es den Kritikern leicht, sich an ihm abzuarbeiten. Für einen Verriss seiner Leistungen kann man als Rezensent leicht Beifall ernten, weil es immer jemanden gibt, der kaum seine ausgefeilte Rhetorik kennt, ihn aber auf jeden Fall ein bisschen igitt findet. Es gibt davon sogar ziemlich viele, weshalb sich die offene Verehrung für den Jubilar in Grenzen hält. Einen Lindenberg oder einen Otto betet man förmlich an fürs Lebenswerk, einen von der Lippe nimmt man zur Kenntnis.

Natürlich weiß er das. Von der Lippe ist ein kluger, ein belesener Mann, einer, dem die Jahre eine dicke Haut verschafft haben, unter der seine Feinsinnigkeit manchmal verborgen bleibt. Er weiß wohl, dass er vom Feuilleton niemals geliebt werden wird. Nach 43 Jahren auf der Bühne ist ihm das komplett wurscht. Genüsslich zitiert er aus einer seiner ersten Kritiken für einen frühen Auftritt in den 70er Jahren. "Gelegentlich aufblitzende Momente von Esprit benutzt er statt zu satirischen Barrikadenkämpfen zu gigantomanischen Latrinensprengungen", schrieb jemand damals, aber es klingt wie gestern verfasst. Wie der Kritiker hieß, ist dem Künstler gerade entfallen. Deutlich wird aber, dass von der Lippe ihm immer noch einen gewissen Respekt entgegenbringt. Er genießt diese entschlossene Wortgewalt. Lieber so verrissen werden als von irgendwelchen Dilettanten ein Lob einheimsen.

Verrisse hat er gerade erst wieder kassiert. Im Düsseldorfer Theater an der Kö steht er noch bis Mitte Juni auf der Bühne. In einem von ihm geschriebenen Boulevardstück. Die wollen nur spielen heißt das Werk, dem die örtlichen Societyreporter, die sonst mit Jubel für halbgare Tür-auf-Tür-zu-Inszenierungen nicht sparsam sind, in ihren Rezensionen erstaunlich entschlossen entgegentreten. Für fast alle Termine bekommt man noch mühelos Karten.

Von der Lippe zuckt mit den Schultern. Bei den Terminen, die er vorher mit dem Stück in Niedersachsen absolviert habe, seien die Menschen begeistert gewesen und in Scharen gekommen. In Braunschweig habe das Theater nie ein erfolgreicheres Programm gehabt. Mal so, mal so. "Die einen finden es großartig, aber es gehört auch dazu, dass es andere zum Kotzen finden", sagt er und fügt eine klare Standortbestimmung hinzu: "Ich habe immer polarisiert."

Für ihn fügt sich so etwas in eine Tradition. "Die Leute, die beschlossen haben, mich nicht zu mögen, machen das schon sehr lange", sagt er und sieht angesichts seiner sonstigen Bühnenerfolge optimistisch in die Zukunft. "Wenn das 'Seine Zeit ist um' ist, mache ich gerne weiter."

Bei "Geld oder Liebe" hatte er Erfolg und "absolut das Sagen", danach folgte mancher TV-Flop

Das leuchtet rasch ein, zumal er dieses "Seine Zeit ist um" schon mehrfach in seiner Karriere zu hören bekam. Als er sich Anfang des Jahrtausends von der ARD-Show Geld oder Liebe verabschiedete, sah man ihn abstürzen. Das entbehrte nicht einer gewissen Logik, denn bekanntlich gibt es vom Gipfel nur eine Richtung. Und dass von der Lippe auf dem Gipfel war, ließ sich nur schwer anzweifeln. Er wurde eingeschaltet, beklatscht, und er hatte Einfluss. Stellte er in Geld oder Liebe eine neue Band vor, brummten am nächsten Verkaufstag die Kassen in den Plattenläden.

Rückblickend spricht von der Lippe von der goldenen Zeit des Fernsehens. "Ich hatte da absolut das Sagen", erzählt er, und was das bedeutet, kann man erst ermessen, wenn man weiß, wie heutzutage Unterhaltungssendungen entstehen. Ganz viele reden mit, sodass schon manch gute Idee in der Verwässerung ertrunken ist.

Wie so etwas aussieht, konnte der in Bad Salzuflen als Hans-Jürgen Hubert Dohrenkamp geborene und in Aachen aufgewachsene Moderator mit dem auf die lippische Herkunft verweisenden Künstlernamen nach seinem Wechsel von der ARD zu Pro Sieben Sat 1 am eigenen Leib erfahren. Etliche Shows floppten. Bei einer sagte der Senderchef, dass er ja mit dem Testbild mehr Zuschauer erreiche. Aber dann kam 2006 die Spielshow Extreme Activity, ein Zuschauererfolg, was ihm den zweiten Grimme-Preis bescherte.

Aber eigentlich ist das mit dem Fernsehen ohnehin ein einziges großes Missverständnis in von der Lippes Karriere. "Das ist wunderschön. Das macht Spaß, aber ich bin Bühnenmann", hat er gesagt, als er 1980 bei der Vorabendshow WWF Club als moderierender Hausmeister anfing, und sich selbst wohl am meisten gewundert, dass ihm das angesichts des Mattscheibenerfolgs lange niemand abnehmen wollte.

Heute ist er wieder der Bühnenmann, der er immer sein wollte. Mit Begeisterung erzählt er von Auftritten, die funktionieren. "Das Publikum ist die Welle, und der Akteur ist der Surfer", sagt er. Von der Lippes Ziel bei seinen Auftritten ist klar: "Ich möchte, dass die Leute nach Hause gehen und sagen: Nächstes Mal brauchen wir bessere Karten."

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Dass es ein nächstes Mal geben wird, daran lässt er keinen Zweifel. Jeden Tag setzt er sich hin und schreibt. Irgendwie liegen immer hundert angefangene Texte herum, Geschichten und Glossen, die eigentlich Stand-up-Monologe sind. "Jeden Tag kommt eine Idee für eine Geschichte", sagt er und beantwortet die Frage, ob da ein Drang in ihm sei, mit einem klaren Ja. "Wenn das läuft, ist das eine tolle Sache."

Unter der Gürtellinie sind einige Witze immer noch - statt um Sex geht es mehr um Wehwehchen

Wenn man ihm bei Kirschstreusel und Kaffee eine Weile zuhört, kommt man rasch zu dem Schluss, dass da einer seinen Platz gefunden hat. Auf seiner Website steht "Zur Zeit keine TV-Termine". Auf eine Art wirkt das wie eine Befreiung des Bühnenmanns. Einen letzten Rest von TV hat er für sich ins Internet rübergerettet. Seine wirklich witzige und extrem kostengünstige Show Was liest du?, die der WDR aus bis heute unerfindlichen Gründen nicht fortsetzen wollte, inszeniert er nun selbst bei Youtube. Dort heißt sie Lippes Leselust, und die erste Folge steuert gerade auf 300 000 Klicks zu. Viel mehr Zuschauer versammelten sich auch im Dritten selten. "Ich bin zufrieden, wie es ist", sagt von der Lippe ohne Bitterkeit. Wenn es die Bitterkeit jemals gab, wovon auszugehen ist, dann ist sie mittlerweile verflogen.

Von der Lippe ruht in sich. Man kann sich als älterer Herr mit ihm gut über Zipperlein unterhalten. Er ist bekennender Nosophobiker, also einer, der sich aus lauter Angst vor Krankheit dauernd über Krankheit sachkundig machen muss. Mit Harald Schmidt hat er dazu aus dem Stand hervorragende Dialoge improvisiert. Kurz entsprang damals die Idee, man könne mit so etwas auf Tour gehen, aber dann hatten beide keine Lust dazu oder die Einsicht, dass man es manchmal so lassen muss, wie es ist, wenn es gut ist.

Ohnehin fühlt sich von der Lippe nicht wirklich hinfällig. "Ich habe keine Angst davor krank zu sein, ich habe Angst, nicht arbeitsfähig zu sein", sagt er. Er hat schon mit hohem Fieber auf der Bühne gestanden. Er weiß, wie das ist, wenn man hinterher in der Garderobe nicht mehr kann. Aber er weiß auch, wie sehr sein Publikum das mag, wenn er auf der Bühne über Krankheit sinniert. "Die Leute finden nichts schöner, als wenn man als Betroffener von Dingen erzählt, vor denen sie Angst haben", sagt er. Natürlich geht es dabei immer wieder auch unter die Gürtellinie. Doch die Konnotation hat sich verändert - weniger Sex, mehr Wehwehchen. Im nächsten Programm könnte sich also auch eine Nummer finden, in der es um die Probleme geht, die man sich mit einer Hämorrhoiden-Operation einhandelt. Für einen, der fürs Leben gern Witze macht, ist das Thema eh egal. Hauptsache, die Technik stimmt. Hauptsache, der Surfer kriegt sie, die perfekte Welle. Dann wird gelacht, dass die Schwarte kracht. Auch jenseits der 70. Warum also aufhören?

© SZ vom 26.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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