Klimajournalismus:30 Sekunden für die Polarschmelze

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Ein Eisbär steht im Nordpolarmeer auf einer Eisscholle. Regen statt Schnee würde sein Leben deutlich erschweren. (Foto: Ulf Mauder/dpa)

Sachlich bleiben oder Alarm schlagen? Oder Alarm schlagen, gerade weil die Sachlage das gebietet? Journalisten ringen darum, wie und in welchem Umfang sie über den Klimawandel berichten sollen.

Von Julian Rodemann

Nicht einmal eine halbe Minute Sendezeit widmete die Tagesschau neulich dem größten Gletscher Grönlands. An der Nordküste der Insel war ein Stück Eis abgebrochen, das größer ist als die Fläche der Stadt Paris. Der Tagesschau-Sprecher fügte noch kurz an, dass Wissenschaftler die Klimakrise für das immer schnellere Schmelzen des Grönlandeises verantwortlich machen, ehe er mit einem Lächeln die Wettervorhersage ankündigte.

Aus Sicht vieler Klima-Aktivisten steht diese Tagesschau-Sequenz symptomatisch für den Umgang deutscher Medien mit dem Klimawandel: Eine knappe Meldung über die Polarschmelze hier, ein kurzer Bericht über die auftauenden Permafrostböden dort, aber die zentrale Story dreht sich dann doch wieder um die neueste Volte im Machtpoker um den CDU-Vorsitz.

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Auch Medienmacher selbst kritisieren verstärkt die Berichterstattung über den Klimawandel - oder sollte man schreiben: über die Klimakrise? Autorinnen und Autoren der taz machen sich darüber in einem neuen Leitfaden zu klimagerechter Sprache Gedanken. Noch weiter geht die Journalistin Sara Schurmann, sie forderte kürzlich in einem offenen Brief ihre Kollegen dazu auf, die Klimakrise "endlich ernst" zu nehmen - mehr als 50 Journalisten unterzeichneten den Appell. Zwar würde über Temperaturrekorde, Dürrejahre oder Überflutungen berichtet, schreibt Schurmann, "aber viele von uns scheinen das Gesamtbild gar nicht mehr zu sehen, das diese Meldungen ergeben". Der Stern lud Vertreter von "Fridays for Future" ein und entwarf zusammen mit ihnen eine ganze Ausgabe des Magazins, die taz ließ sich von der Bewegung gar "kapern".

Eigentlich müsste es auch in Artikel über das neue Iphone über ökologische Auswirkungen gehen

Kritik am Umgang der Medien mit der globalen Erwärmung ist nicht neu, inzwischen aber trifft sie die deutschen Redaktionen mit voller Breitseite. Ging es früher vor allem darum, ob Journalisten den Wissensstand in der Klimaforschung adäquat darstellen, so stehen heute grundsätzlichere Fragen im Vordergrund: "Den Aktivisten ist insbesondere wichtig, die Klimakrise als Querschnittsthema stärker zu würdigen", sagt Michael Brüggemann. Der Professor für Wissenschaftskommunikation an der Universität Hamburg beschäftigt sich seit langem mit der Klimaberichterstattung - und kann die jüngste Kritik durchaus nachvollziehen. Die Erderwärmung sei längst zu einem allumfassenden Thema geworden, sagt er, es reiche daher nicht, nur im Wissenschaftsteil über ein paar Fachstudien zu berichten. Es müsste zum Beispiel auch in Artikeln über das neue Iphone oder eine exotische Reise viel mehr um deren ökologische Auswirkungen gehen.

Wie das geht, zeigt der englische Guardian. Die Tageszeitung bekennt sich schon seit einem Jahr zu einer alarmistischen Klimaberichterstattung. Zuletzt bekräftige die Chefredakteurin Katharine Viner die konsequente Linie des Blatts, die sich nicht auf den redaktionellen Teil der Zeitung beschränkt: Seit Anfang dieses Jahres nimmt der Guardian keine Anzeigen mehr von Öl- und Gasfirmen an; das Medienhaus will zudem bis 2030 emissionsneutral sein. Trotz der Corona-Pandemie habe der Guardian während der vergangenen zwölf Monate in über 3 000 Artikeln Klima- und Umweltthemen behandelt, schreibt Viner.

Dass nun etwa der Stern mit "Fridays for Future" kooperiere, findet Brüggemann "mutig und gut". Es hatte viel Kritik an der Zusammenarbeit gegeben, auch aus den eigenen Reihen. Ein Reporter wurde mit den Worten zitiert: "Man kann sich mal mit einer Sache gemein machen. Mit einer Bewegung aber nicht." Brüggemann hält dagegen: "Absolute journalistische Unabhängigkeit ist eine Illusion." Die eigenen Werte und Meinungen könne keiner ausblenden - da sei es ehrlicher, sie transparent zu machen.

"Die Mehrheit berichtet präzise über den Stand der Wissenschaft"

Sven Engesser, Professor für Wissenschafts- und Technikkommunikation an der Technischen Universität Dresden, will die Kooperationen zwischen Aktivisten und Journalisten bei Stern und taz nicht überbewerten. Zwar sei bei manchen Journalisten eine Art "Notstandsempfinden" zu beobachten: "Sie tun angesichts des Klimawandels Dinge, die sie sonst vielleicht nicht mit ihrer Berufsnorm vereinbaren könnten", sagt Engesser. Allerdings werde dadurch die neutrale Berichterstattung über das Thema in anderen Medien keinesfalls verdrängt.

Ähnliches gelte für die Darstellung wissenschaftlicher Ungewissheiten in der Klimaforschung. Besonders der Wissenschaftsjournalist Axel Bojanowski von der Welt kritisiert immer wieder, dass in Berichten über Klimaprognosen deren Unsicherheiten verschwiegen werden. Engesser stimmt zu, ergänzt aber, dass das nur für eine "substanzielle Minderheit" der Journalisten gelte. "Die Mehrheit berichtet präzise über den Stand der Wissenschaft."

Engesser verweist etwa auf eine Studie des Kommunikationswissenschaftlers Marcus Maurer, der Berichte über die Temperaturprognosen auf den Weltklimakonferenzen untersucht hatte. In 29 Prozent der Artikel war schlicht von einem vorausgesagten Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur von sechs Grad Celsius die Rede, obwohl auf den Konferenzen stets eine Temperaturspanne kommuniziert worden war, also zum Beispiel eins bis sechs Grad. Die Studie stammt aus dem Jahr 2011, eine neuere Erhebung aus dem Jahr 2016 kommt zu dem Ergebnis, dass immerhin 43 Prozent der Artikel über den fünften Bericht des Weltklimarats IPCC in deutschen Medien die als ungewiss gekennzeichneten Aussagen des Weltklimarats als Gewissheiten wiedergaben.

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Klimawissenschaftler wie Mojib Latif vom Geomar-Institut in Kiel betonen immer wieder, dass zum Stand ihrer Forschung auch die Unsicherheiten gehören. Wenn man Forschungsergebnisse schlimmer mache, als sie ohnehin schon seien, sagt Latif, tue man in gewisser Weise genau das, was man den Klimaskeptikern vorwerfe: Die Wissenschaft ignorieren. Deshalb stehe er auch heute noch zu einem Satz, den er bereits vor zehn Jahren gesagt hat: "Alarmismus ist mindestens genauso schlimm wie Skeptizismus."

Axel Bojanowski geht noch viel weiter, für ihn sind derlei Übertreibungen Symptome eines aktivistischen Journalismus, der darauf angelegt sei, "das Klimawissen aus politischen Gründen verzerrt darzustellen", findet der studierte Geologe. Er habe überhaupt nichts gegen verschiedene Perspektiven auf die Klimaforschung. Übertreibung und Verzerrung aber schade dem Diskurs. "Aktivismus öffnet Interessengruppen alle Türen, die den Klimawandel egoistisch ausnutzen wollen."

Außerdem führe das alles nur zur Abstumpfung. "Überzeugt werden nur bereits Überzeugte, Misstrauische werden abgestoßen", sagt Bojanowski. Tatsächlich fanden etwa Forscher um den Politologen Toby Bolsen erst neulich heraus, dass appellartige Berichte, in denen von Klimatologen zu Verhaltensänderungen angesichts des Klimawandels aufgerufen wurde, zu weniger Vertrauen in Klimaforscher und weniger Unterstützung klimafreundlicher Politikern führten. Klimaforscher und Journalisten könnten sich ein Beispiel an Virologen nehmen, die in der Corona-Pandemie offen über Forschungsergebnisse stritten, sagt Bojanowski. "Christian Drosten wird derzeit zurecht gepriesen für seine Konsequenz bei der Kommunikation der Unsicherheiten seiner Erkenntnisse."

"Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Gesellschaft bereit und fähig ist, tief in wissenschaftliche Fragestellungen einzutauchen"

"Der Vergleich zwischen Corona und dem Klimawandel hinkt ein wenig", entgegnet Sven Engesser von der TU Dresden. Bei Erkenntnissen über den Klimawandel gehe es häufig um letzte Restunsicherheiten, wohingegen die Erforschung des neuartigen Coronavirus fast täglich neue Einsichten ans Tageslicht befördert habe - selbstverständlich sei die Unsicherheit da viel größer gewesen. Gleichwohl stimmt er Bojanowski in einem Punkt zu: "Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass die Gesellschaft bereit und fähig ist, tief in wissenschaftliche Fragestellungen einzutauchen." Man könne den Menschen durchaus mehr Komplexität zumuten, als manche Journalisten glaubten.

Der freie Wissenschaftsjournalist Ralf Nestler argumentiert ähnlich. In einer Erwiderung auf Schurmanns offenen Brief schreibt er: "Leser, Hörerinnen und Zuschauer haben ein Gespür dafür, wenn sie behandelt werden, als seien sie ein bisschen dumm und ihnen müsste noch etwas beigebracht werden." Es ist die bekannte Kritik am sogenannten Nanny-Journalismus, der belehrt statt aufzuklären, missionieren will statt Fakten zu liefern und so seine Glaubwürdigkeit verspielt. Wenig anfangen kann Nestler auch mit der klimagerechten Sprache, wie sie in der taz diskutiert wird. Begriffe wie "Erderhitzung" statt Erderwärmung schreckten zwar zunächst auf, "doch dieser Effekt verschwindet mit der Zeit, weil man sich daran gewöhnt", schreibt Nestler. Nach zwanzig Jahren müsste dann die nächste Eskalationsstufe her.

Auch die Bemühung um Ausgewogenheit kann sich rächen

So gefährlich der Hang zu aktivistischem Klimajournalismus für das Vertrauen in Medien und Wissenschaft sein kann - auch die eigentlich redliche Bemühung um Neutralität und Ausgewogenheit kann nach hinten losgehen. Zwar bestreitet im Jahr 2020 wohl kein ernstzunehmender Journalist mehr, dass der Klimawandel real, menschengemacht und gefährlich ist. Und dennoch kommen hin und wieder sogenannte Skeptiker, das heißt in den meisten Fällen Leugner des menschengemachten Klimawandels in Medien zu Wort - jedenfalls international. Das Phänomen wird "falsches Gleichgewicht" genannt und ist insbesondere im angelsächsischen Journalismus verbreitet: Reporter lassen sich vom Ideal einer ausgewogenen Berichterstattung dazu verleiten, neben anerkannten Experten auch Vertretern von Außenseitermeinungen eine Bühne zu bieten. Obwohl 99 Prozent der Forscher einer Meinung sind, sieht es für die Leser dann so aus, als gäbe es zwei gleichberechtigte Sichtweisen und nicht einen wissenschaftlichen Konsens.

Diese Form der Klimaberichterstattung nimmt jedoch ab. Journalisten zitieren zwar gelegentlich noch Klimawandelleugner, ordnen deren verquere Ansichten aber vermehrt kritisch ein, wie Brüggemann und Engesser in einer gemeinsamen Studie, veröffentlicht im Fachjournal Global Environmental Change, herausgefunden haben.

Das deckt sich mit dem Eindruck, den Mojib Latif von der Klimaberichterstattung hat. Der 66-jährige Klimaforscher verfolgt die Debatte um den Klimawandel seit Studientagen. Auf die Frage, was sich am Bild des Klimawandels in den Medien am meisten verändert hat, sagt Latif: "Es hat lange gedauert, aus meiner Sicht viel zu lange, aber der überwiegende Teil der Medien räumt den Klimaskeptikern heute viel weniger Raum ein, als es noch vor etwa einem Jahrzehnt - unberechtigter Weise - der Fall war." Bei all den schlechten Nachrichten zum Klimawandel ist immerhin das eine gute.

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