Silvester und Corona:Das Ereignis

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Rückkehr zu dem, was einfach aus dem Fernseher kommt: An Silvester im Programm sind "Mr. Bean", die Tanz- und Musikfilme "Flashdance", "Grease 2", "Saturday Night Fever" und "Walk the Line", und ein Aristokratenschwerpunkt mit "Maria Theresia". Collage: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Früher war klar: Fernsehen ist Geselligkeit mit Leuten, die nicht da sind. Das könnte an diesem Silvester von Vorteil sein. Eine Einladung zur Wiederentdeckung eines fast vergessenen Gefühls.

Von Claudia Tieschky

Früher war es normal, dass es ein Gerät gab, das "der Fernseher" hieß und wie ein Gast im Wohnzimmer hockte, an einem guten Platz, wo ihn jeder sehen konnte. Es lässt sich sogar behaupten, die kulturelle Selbstfindung von Teenagern habe unmittelbar mit diesem "Fernseher" zu tun gehabt, weil man irgendwann eben einfach aus dem Zimmer ging, in dem ein Programm lief, das man nicht sehen wollte und das man mangels Macht über die Fernbedienung auch nicht ändern konnte.

Die jetzt fehlende Möglichkeit des Aus-dem-Zimmer-Gehens wirft einen in diesem seltsamen Jahr in einen Zustand zurück, der einem öden Teenagergefühl sehr nahe kommt: Auf sein Leben zu warten, weil man gemeinerweise daran gehindert wird, es zu führen. Rausgehen und mit anderen lebendigkeitsbeweismittelfähige Sachen zu machen, fällt flach. So war es an Weihnachten, und so wird es, viel übler, auch an diesem Silvester sein. Bisher dachte man, das Schlimmste sei es schon gewesen, als man damals ahnungslos das Silvestermenü buchte, bei dem die Speisefolge grausam bis 23.30 Uhr gedehnt wurde und man auf jeden Gang wartete wie auf den Bus.

Würde man je für das Internet einen Käseigel auf den Tisch stellen, Bowle und die Haare machen?

Diesmal wird den ganzen Abend kein Bus kommen, aber das Ziel, bis zu dem es anstandshalber durchzuhalten gilt, ist immer noch Mitternacht. Nicht einfach. Keine Restaurants, kein Feuerwerk, kein Rausgehen auf die Brücken um viertel vor zwölf, in Bayern überhaupt kein Rausgehen nach neun Uhr. Die Wahrheit ist, viele Menschen werden sich an diesem Jahreswechsel allein oder zu zweit im Wohnzimmer wiederfinden, und der einzig legale Gast ist der Herr Fernseher.

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Man würde jetzt wirklich gern von einer heimeligen Rückkehr sprechen und das Fernsehwohnzimmer, das man einst verlassen hat, zur Wohlfühlzone ausrufen. Bloß ist es womöglich viel schlichter. Keiner hat sich die Stubenhockerei an Silvester ausgesucht; im Fernsehen läuft leider meistens immer noch Programm, das man nicht sehen will; auf dem Sofa sitzen noch nicht mal die Eltern und wollen wie früher die Silvestersendung Schimpf vor 12 von der Lach-und Schießgesellschaft sehen.

Und trotzdem: Mit einem geschickt gewählten Programm ist eine Rückkehr zu dem, was einfach aus dem Fernseher kommt, möglicherweise jetzt die beste Idee gegen die Zwangsvereinzelung. Natürlich ist man auch im Internet niemals allein, tolle Sache, das Internet. Aber würde man je für das Internet einen Käseigel auf den Tisch stellen, Bowle und die Haare machen? Und vor allem: Weiß das Internet, wann Mitternacht ist?

Man könnte es mit der Maximalversion von Fernsehschauen versuchen. Und einer Verbindung, die immer da war

Es spricht jedenfalls einiges für die Option, es an diesem mit purer Ödnis drohenden Silvesterabend einmal mit der etwas aus der Mode gekommenen Maximalversion von Fernsehschauen zu versuchen. Die Maximalversion stammt aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, als Fernsehen noch das Ereignis war, das es jetzt wieder ist, weil man allein zu Hause hockt. Wer in jener Zeit schon selber kostümiert im Wohnzimmer saß und den anderen Verkleideten im Programm mit Sekt zuprostete, weiß, dass Fernsehen Geselligkeit mit Leuten ist, die nicht da sind.

Es gibt, allen gegenteiligen Behauptungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Trotz, tatsächlich ein Signal, das aus dem Wohnzimmer in den Fernseher hineingesendet wird. Es ist reine Gefühllosigkeit, zu leugnen, dass es beim Fernsehen einen Sender und einen Empfänger gibt und sonst nichts. Es ist bewusste Verdrängung, wenn man behauptet, der Rückkanal, also die Verbindung des Zuschauers zum Sender, sei eine Erfindung der digitalen Zeit. Diese Verbindung war immer da, sie ist nur irgendwie egal geworden.

Was es zu sehen gibt, ist manchmal wirklich sehr, sehr seltsam

Wovon wir im Grunde reden, ist, dass man dieses Fernsehen wieder wichtig nehmen könnte. Es ist ja schließlich da. Wie man jetzt wieder bemerkt. Und es ist manchmal wirklich sehr, sehr seltsam.

An diesem 31. Dezember zum Beispiel kann man den Jahreswechsel beim öffentlich-rechtlichen ZDF info ab 6.45 Uhr mit drei Stunden Countdown zum Zweiten Weltkrieg beginnen, gefolgt von der Doku Polenfeldzug und Hitlers Blitzkrieg 1940, wonach der Countdown zum Untergang beginnt und dann der Countdown zum Kriegsende, der sich bis ins neue Jahr hineinzieht, das mit den sicher wahnsinnig spannenden Geheimnissen des Zweiten Weltkriegs beginnt. In der ARD moderiert der Alltagsquizonkel Jörg Pilawa einfach mal eben auch die Silvestershow und im ZDF gestalten Andrea Kiewel und Johannes B. Kerner den Abend Willkommen 2021, zu dem sich Prominente "live von zu Hause" zuschalten. Bei RTL läuft Die ultimative Chart Show - 20 Jahre neues Jahrtausend: Die erfolgreichsten Hits!, während Pro Sieben den ganzen Abend lang Bully-Herbig-Filme bringt.

Aber dieses unmögliche Silvesterfest hätte es verdient, dass das Fernsehen puren Glitzer und herrliches Geschrei sendet, die Gastgeber wären möglicherweise Hella von Sinnen im Duett mit Barbara Schöneberger, Olli Dittrich und Anke Engelke würden so tun, als ob sie gegen Jan Böhmermann kochen, es gäbe Pudel mit feinem Fellschnitt, und falls es öffentlich-rechtlich wäre, dürfte Partycrasher Reiner Haseloff einen abstandsgerecht aufgestellten Kinderchor dirigieren. Die Gäste könnten schlaue und alberne Sachen sagen, Torten werfen, ab und zu laut lachen, und es würde wahnsinnig viel überhaupt nicht klappen. Wenn es am tollsten wäre, schlüge es schon Mitternacht. Leise kichert der Käseigel.

Und jetzt aufwachen bitte. Es ist noch lange nicht zwölf.

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