Die Norweger gelten als ausgewiesene Fans des sogenannten "Slow TV". Fernsehkenner verstehen darunter die Echtzeit-Übertragung eines banalen Ereignisses in seiner ganzen Länge. Mancher würde wohl sagen: Slow TV ist Langeweile live. Aber das wird der Sache nicht gerecht, denn es hat seine ganz eigene hypnotische Faszination, einem Schiff 134 Stunden beim Durchgleiten von norwegischen Fjorden zuzuschauen. "Und was hat das jetzt mit dem Dschungelcamp zu tun?", wird der konditionierte Nutzenleser ungeduldig fragen.
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Zunächst zwei offensichtliche Dinge: Die neunte Ausgabe von Ich bin ein Star - Holt mich hier raus! hätte auch unter "Die unerträgliche Langeweile des Seins" firmieren können. Trotzdem wird RTL bei Staffel neun wohl im Schnitt auf mehr als sieben Millionen Zuschauer kommen, bei einzelnen Folgen lag die Quote sogar bei 30 Prozent. Die Marke Dschungelcamp macht noch eine schlechte Campbesetzung wett.
Doch es gibt weitere Parallelen. Die Begeisterung der Norweger für gegen den Strom schwimmende Lachse ( 18 Stunden) oder die Strickwaren-Produktion von der Schaf-Schur zum fertigen Pullover ( fünf Folgen zwischen 45 Minuten und zwei Stunden) legt nahe, dass Slow TV auch etwas mit der richtigen Einstellung zu tun hat. Es braucht Entdeckerlust, um diese Form des Fernsehens wertschätzen zu können. Ein unvorhergesehen im Bild auftauchendes Bauarbeiterdekolleté beim "National Knitting Eve" kann in höchste Euphorie versetzen - man darf an entscheidender Stelle nur nicht eingeschlafen sein. Womit wir beim Finale des diesjährigen Dschungelcamps wären.
"Die Leute lieben mich. Sonst wäre ich ja niemals auf Platz vier"
Dort beginnt die Inszenierung der Langeweile mit einer Schlange im Camp. Ein klassisches Nicht-Ereignis, trotz der Untermalung mit Psychothriller-Klängen: Die Schlange bleibt von den verbliebenen vier Bewohnern unbemerkt, genauso wie die Ranger, die sich im Schutz der Dunkelheit auf die Suche nach der "höchstwahrscheinlich völlig ungefährlichen" Baumnatter machen (O-Ton Daniel Hartwich). So fällt auch die Reaktion von Tanja Tischewitsch auf die nächtlichen Geschehnisse verhalten aus: "Oh waas? Oh Gooott!"
Doch dann, Rückblende auf das Ausscheiden von Rolfe Scheider - und der erste Bauarbeiterdekolleté-Moment. "Ich bin absolut zufrieden mit meiner Leistung", sagt der Mann mit der kryptischen Berufsbezeichnung "Castingdirector". "Die Leute lieben mich. Sonst wäre ich ja niemals auf Platz vier gekommen." Ja, es gibt sie auch in dieser Staffel neun: Zitate für die Ewigkeit.
So geht es weiter, eine Sprachperle reiht sich an die nächste. Das ist schon fast schnödes Unterhaltungsfernsehen. Tanja, Maren und Jörn (Schlönvoigt) dürfen sich für die Kamera über ihren Einzug ins Finale freuen. Tanja sagt, etwas einstudiert: "Ich bin als No-Name hier reingegangen. Und ich will als Name wieder rausgehen. From zero to hero." Und für Jörn würde die Krönung zum Dschungelkönig "die Welt" bedeuten, denn: "Ich dachte immer, ich bin so langweilig, dass sich niemand für mich interessieren würde, wenn ich hier reingehe."
Um es vorwegzunehmen: Am Ende reicht das Zuschauerinteresse tatsächlich nicht, um Jörns Traum wahrzumachen; er landet auf Platz zwei. Aber vielleicht hat Ex-Mitbewohner Rolfe ja Kontakte in die norwegische Slow-TV-Caster-Szene? Denn dieses Dschungelcamp - es ist über weite Strecken Slow TV at its best. Oder wie es Sonja Zietlow formuliert: Wenn die vergangene Staffel ein Eimer Sangria war, ist diese ein Cognacschwenker.
Kontemplative Leere. Alles kann, nichts muss
Wobei die Moderatoren mit dem Paradigmenwechsel in der Programmgestaltung durchaus noch ihre Probleme haben. Als die Finalisten nach Rolfes Auszug erst einmal das Camp putzen, herrscht oben im Baumhaus gespielte Fassungslosigkeit: "Wollen die uns verhohnepiepeln? Das ist ja krank! Das ist gemein!" Doch nach 16 Tagen konsequenter Entertainment-Verweigerung von Seiten der Bewohner reagieren die Sendungsverantwortlichen endlich auf diese einzig richtige Art und Weise - mit Resignation.
Die finalen Prüfungen heißen "Schnick", "Schnack" und "Schnuck"; dahinter verbirgt sich Altbekanntes: eine Schlangengrube für Maren, ein Ekel-Menü für Tanja und ein Helm gefüllt mit Tausenden Insekten für Jörn. Und, wie war's? Maren: "Es war eigentlich kein unangenehmes Gefühl." Tanja: "Man muss keine Pornodarstellerin sein, um zu schlucken." Jörn: "Das ganze zentrale Nervensystem ist unter Feuer."
Weil die letzte Aussage ein bisschen zu sehr nach Aufregung klingt, reagiert RTL prompt und zeigt das Trio beim Verspeisen der in den Prüfungen erarbeiteten Köstlichkeiten. Bei Tisch wird schließlich nicht geredet. Und darum geht es beim Slow TV: kontemplative Leere, alles kann, nichts muss.
Wenn du willst, bin ich gar nicht deine Freundin. Wenn du willst, bin ich Manuel Neuer.
Nein, Stopp, das war ja diese Werbung. Wann lief die noch mal? Vor zehn Minuten? Gestern? Schon ist Entscheidung: Tanja landet auf Platz drei, im Camp zurück bleiben Maren und Jörn. "Leg' dich hin, bevor du hyperventilierst!", rät die Ältere dem Jüngeren. Wohl dem, der in diesem Moment geistig ein norwegischer Lachs ist. Sonst würde man schreien wollen: "Nein! Bitte nicht schon wieder hinlegen!"
Um 00:13 Uhr ist dann klar: Maren Gilzer ist Dschungelkönigin 2015. Und Sonja Zietlow schickt einen letzten Dank ans ganze Team: "Ihr habt aus wenig mehr gemacht." Das lässt sich bestimmt noch gut nach Norwegen verkaufen.