Alicia Campos hat ihren Posten an dicken Felsen aufgeschlagen und gleich bei der Schranke mit den Polizisten, dahinter soll zur Wochenmitte ihr Sohn aus dem trockenen Boden geholt werden und noch berühmter werden. Seit zwei Monaten sitzt die Mutter von Daniel Herrera an einer Feuerstelle unter Zeltplanen und hofft, dass ihr Sohn wie 32 andere Bergarbeiter aus dieser Mine San José 700 Meter unter Chiles Atacama-Wüste befreit wird.
"Wir warten auf dich, Daniel", steht auf einem Plakat, Millionen Zuschauer haben solche Bilder gesehen. Denn dieses Feldlager mit dem Namen La Esperanza, die Hoffnung, ist längst ein globales Studio. Gerade erzählt Señora Campos drei deutschen Journalisten, einem Chilenen und einer Spanierin von ihrem Jungen. Nebenan rattert der Kompressor von CNN. Kaum ist man aufgestanden, da nimmt sie bereits Canal 13 aus Argentinien in Beschlag wie eine Schauspielerin beim Endlosinterview. Der Nächste bitte.
Als Alicia Campos aus der Gegend von Rancagua im Süden nach dem Einsturz zu diesem Bergwerk in den Norden eilte, da war dies Einöde. Noch vor wenigen Wochen kehrte spätestens am Abend Ruhe ein hinter den Bohrtürmen, wo sich Angehörige versammeln, Techniker, Helfer, Polizisten und Politiker. "Und schaut euch das jetzt an", sagt sie. Jetzt werden Daniels Mama und die anderen Verwandten belagert in einer Wagenburg aus Zelten, Übertragungsstationen, Satellitenanlagen und Internetcontainern.
Seit die Bergung bevorsteht, sind zwischen den kahlen Hügeln 1500 Medienleute aus 33 Nationen eingefallen. Die 50 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Copiapó war Etappenziel bei der Dakar-Rallye, aber so wie in diesen Tagen ging es in dieser Mondlandschaft noch nie zu. Dies ist das bizarrste Pressezentrum der Erde.
Da staunt auch Jorge Medina von Radio Cooperativa, er war einer der ersten. Der Lokalkorrespondent des chilenischen Rundfunkkanals fuhr am 5. August in die sandigen Berge hinauf, nachdem das Grubenunglück bekannt geworden war. Ein Unfall wie viele dieser Art, vermutete Medina, "wir dachten nicht, dass da noch einer lebt." Chilenische Kollegen rückten nach, man schien einem nationalen Trauerfall an der Peripherie der Weltgeschichte beizuwohnen. Sie sprachen mit den Verwandten, recherchierten die Namen der Vermissten. In den internationalen Nachrichten kamen die Kumpel als Kurzmeldung vor - wie eine gekenterte Fähre in Bangladesh. Als Chiles Präsident und früherer Fernsehsenderbesitzer Sebastián Piñera TV-gerecht bekannt gab, dass die 33 Männer wohlauf seien und ein Schacht gebohrt werde, begann der Ausnahmezustand.
Chile: Rettungs-Countdown:Warten auf den Tag X
Ein Rettungsbohrer ist zu den eingeschlossenen Bergleuten vorgestoßen. Die Spezialsonnenbrillen liegen bereit, unter Tage machen sich die Männer für die Transportkapsel fit.
Inzwischen sind sämtliche Hotelzimmer und Mietautos der Umgebung ausgebucht, die Wohnmobile sowieso. Japanische und nordamerikanische Fernsehmenschen rücken in Mannschaftsstärke an, Helfer wuchten 35 Kisten vom Gepäckband am Flughafen und haben in diesem vormaligen Niemandsland Zeltstädte mit Stromgeneratoren, Telefonanlagen und Computertechnik errichtet.
"Breaking News, Durchbruch an der Mine", verkündet NBC. "Eine der bewegendsten Geschichten meines Lebens", schwärmt die tadellos gekleidete Moderatorin Natalie Morales. Tim Willcox von der BBC hat "so was noch nie erlebt". Selbst erfahrene Kriegsberichterstatter wie der landesweit prominente Santiago Pavlovic von Chiles TVN sind beeindruckt.
Der bärtige Schlacks mit der schwarzen Augenklappe war in Bagdad und Kabul, als die Raketen flogen. Aber dies hier sei "etwas Positives, etwas Optimistisches". Und: "Das ist ein Zirkus", mit Clowns, die wie Pfarrer und Sanitäter in dem Taubenschlag La Esperanza für Seelenfrieden sorgen sollen.
Nicht mal beim Erdbeben im Februar zog Chile solches Interesse auf sich, was allerdings auch damit zu tun hatte, dass die Chronistenschar damals noch auf den Trümmern Haitis stand. "Diese Story ist Top 3 in Japan", versichert die Gesandte von Fuji TV aus Tokio. TV Globo aus Rio mehrt auch in Brasilien den Ruhm vormals unbekannter Katastrophenmanager wie dem Bergbauminister Laurence Golborne.
Boulevardblätter aus fernen Ländern veröffentlichen Tagebücher aus der Mine und widmen sich seitenlang den Modellen von Spezialschuhen und Sonnenbrillen, die bei der für diesen Mittwoch und Donnerstag geplanten Rettungsaktion zum Einsatz kommen. Vor dem Krankenhaus in Copiapó sind schon Tribünen aufgebaut.
Derzeit versuchen die meisten Reporter und Moderatoren, keinen Sonnenstich zu bekommen. Jeder verfolgt in dem babylonischen Wirrwarr mindestens eine Schwester, Tochter oder Mutter der Bergarbeiter. Manche stellen ihre Kronzeugen exklusiv an und versprechen mächtige Honorare für Reportagen, Filme, Bücher, Serien. Die Stars aus der Unterwelt bekommen über Glasfaserkabel schon Tipps, wie mit Reportern umzugehen ist. Alicia Campos sagt: "Ich will meinen Sohn nicht verkaufen." TV-Veteran Pavlovic beruhigt: "Irgendwann wird dieses Kaff wieder vergessen sein."