Anne Will zu Corona:Menschen, Viren, Mutationen

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Michael Hüther, Vanessa Vu, Helge Braun, Uwe Janssens und die zugeschaltete Malu Dreyer diskutieren mit Anne Will über die Corona-Maßnahmen. (Foto: NDR/Wolfgang Borrs/NDR/Wolfgang Borrs)

Anne Will hat angesichts der neuen Virus-Mutanten frischen Gesprächsbedarf: "Wie viel Zumutung braucht es jetzt?" lautet die Frage. Gemeint sind Maßnahmen, nicht ihre Sendung.

Von Hans Hütt

Zu den Krisengewinnlern in dieser Jahrhundertkatstrophe, das darf man ja auch nicht vergessen, gehören die Talkshows. Was würden die Talkmeister*innen ihren Zuschauer*innen denn sonst gerade anbieten können? Trump ist weg, die Klimakatastrophe katastropht immer so weiter, Twitter debattiert über Clubhouse. Und Andi Scheuer ist immer noch Verkehrsminister. Nein, so eine Pandemie mit ihren Mutationsüberraschungen ist ein steter Quell des frischen Talks und bringt Sendungen hervor, die dann auch mal die Frage erlauben: Wie viel Zumutung braucht es jetzt? So Anne Wills Betreffzeile diesmal. Das wird man ja wohl mal kritisch fragen dürfen. Einerseits.

Andererseits macht das talkende Deutschland, machen Plasberg, Illner und Co., gerade alle nichts anderes, als kritisch nach Pandemiezumutungen, dem Zuviel und Zuwenig von ihnen, zu fragen. Wie also will man das geneigte Publikum in diesem Winter unseres Missvergnügens noch bei Laune halten und immer weiter für immer dieselbe beharrliche Pandemie interessieren, ohne dass die Frage nach der Zumutung zu einer nach der mürbenden Qualität der Sendung aufgefasst wird?

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Anne Will und ihre Gäste machen das diesmal mit Prognosen und Statistik, genauer gesagt: prognostischen Statistiken, die alle von irgendwas ausgehen, um das Drama noch dramatischer aussehen zu lassen, wenn man denn etwas auf Zahlen geben möchte.

Viren-Mutanten sind nun in Deutschland angekommen. Gefährlicher als die bekannten. Ein Berliner Krankenhaus ist schon ganz dichtgemacht worden. Denn wenn sie sich weiterverbreiten, rechnet Virologe Christian Drosten damit, dass die Infektionszahlen noch dramatischer in die Höhe schießen werden. Bei Anne Will sitzen Helge Braun, der Chef des Bundeskanzleramts, Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, der Intensivmediziner Uwe Janssens und die Zeit-Redakteurin Vanessa Vu. Aus Trier ist Ministerpräsidentin Malu Dreyer zugeschaltet.

Es gibt also jetzt diese zugespitztere Lage. Nicht nur eine, alle bekannten neuen Mutanten des Coronavirus sind mittlerweile heimisch. Der Grad ihrer statistischen Ansteckbarkeit variiert, wie im Einzelnen ist auch schon wieder fast egal, sie sind jedenfalls alle deutlich ansteckender als ihr Vorgänger. Reichen die jüngsten Beschlüsse der Länderchefs und der Bundeskanzlerin da noch aus, das alte wie die neuen Viren aufzuhalten?

Die eigentlich gute Nachricht kommt zu Beginn: Die Zahl der täglichen Neuinfektionen geht zurück. Man möchte schon fast vom Ende der Corona-Talks träumen, doch die Ankunft der Mutanten führt zu einer neuen Bedrohungslage (und wohl auch weiteren Talks zum Thema). Jetzt sei es noch wichtiger, die Infektionszahlen schnell zu reduzieren, damit es sich nicht verbreiten kann, sagt Helge Braun. Denn nur niedrige Infektionszahlen lassen sich noch kontrollieren.

Journalistin Vu reichen die Beschlüsse vom vergangenen Dienstag dazu allerdings ganz und gar nicht. Sie bezweifelt, dass auf Appelle gehört werde. Verantwortung werde auf die Schwächsten abgewälzt. Dreyer lobt hingegen ihr Bundesland, weil die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Menschen durch die ergriffenen Maßnahmen auf knapp unter 100 gedrückt worden sei. Doch die B.1.1.7.-Mutante kann alle Erfolge wieder zunichtemachen. Ihre Ankunft kann eine Welle in der Welle, eine massive dritte Welle der Infektion auslösen, warnt Doktor Janssens.

Michael Hüther hält dagegen die Ziele einer frischen Initiative "No Covid" für abwegig. Sie will dem Virus und seinen Mutanten die Möglichkeit zu menschlichem Kontakt überhaupt entziehen, was allerdings auch bedeutet, dem Menschen den Kontakt zu Menschen zu entziehen. Nur auf Zeit, versteht sich, das aber strikt. Das sei nun wirklich niemandem mehr zumutbar - weder den Menschen noch der deutschen Wirtschaft. Wir erleben stattdessen einen "Wischiwaschi-Lockdown" (WWLD) - eine Wortkreation, für die er vor einem Jahr noch sehr schief angeschaut worden wäre. Auch im kommenden Herbst und Winter sei mit so einem WWLD mit Infektionen und Toten zu rechnen. Eine Abschottung des Landes sei in einer freiheitlichen Gesellschaft ja nicht durchzuhalten. Ein Defizit der aktuellen Lage blendet Hüther aus: Es fehlen massenhaft verfügbare Schnelltests. Das ist ein fahrlässig in Kauf genommener Blindflug.

Im Kontrast zu Hüther findet Vu die Initiative "No Covid" gut begründet. Hüthers Haltung findet Vu zynisch. Er kapituliere vor dem Virus. Hüther dagegen graut es vor einer totalen Überwachung wie in China. Und außerdem: Wertschöpfungsketten dürften nicht unterbrochen werden. Das ist ein Augenblick des Schreckens an diesem Abend: Er illustriert die Nähe zwischen reibungslosen Industrieabläufen und Barbarei.

Dreyer findet die Forderungen der "No Covid"-Initiative unrealistisch. Friseure, Gastronomen, der Einzelhandel und die Kultur (in dieser Reihenfolge!) sehnten sich nach Öffnung. Wir befänden uns auf einem guten Weg. Das ist angesichts der inzwischen mehr als 50 000 Toten auch eine erstaunlich kühne Feststellung.

Doktor Janssens ärgert sich darüber, dass seine Kollegen im Sommer nicht deutlicher davor gewarnt hatten, was uns in Herbst und Winter blühen werde. Absehbar sei das gewesen. Nun sei die Personalsituation auf den Intensivstationen am Ende. 4600 Intensivpatienten seien einfach zu viel. Ehrgeizigere Ziele hält er für angebracht.

Auch die Öffentlichkeit bewertet die Lage skeptisch. Grund könnte vielleicht auch ein bisschen das medial-talkende Dauerfeuer zur noch krisiger als krisigen Pandemie-Krise sein. Dazu fehlen allerdings belastbare Zahlen. Wie so vieles!

54 Prozent der Bevölkerung, sagt der ARD-Trend, seien weniger oder gar nicht zufrieden mit dem Management der Krise. Helge Braun erklärt, wir stünden ja aber inmitten einer Jahrhundertnaturkatastrophe. Die Meinungspegel scheinen diesen Sachverhalt nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Bundeskanzlerin hat doch die Dramatik der Lage kürzlich deutlich gemacht. War das noch nicht dramatisch genug?

Hüther bemängelt nun den in Kauf genommenen Blindflug. Es fehle an weiteren, diesmal relevanten empirischen Begleitstudien: Wo komme es zu Infektionsclustern, wie werde die Wirkung der Maßnahmen kontrolliert? Das Desaster in den Alten- und Pflegeheimen betrachtet er als Verwaltungsversagen. Die Testpflicht in den Pflegeheimen gilt erst seit dem 13. Dezember. Erschütternd.

Janssens vergleicht die Lage mit der ärztlichen Routine bei einer Sepsis: Hit hard and early. Das Management der Krise erfordere ähnliche Entschlossenheit. Wir aber erleben 16 Länderchefs, die wie fachsimpelnde Chefinternisten an ihrem Patienten (uns!) herumdoktern und mal dies, mal das zur Kur empfehlen. So heilt da nix, meint der Professor.

Auch die Lage in den Betrieben ist, um es vorsichtig zu sagen, durchwachsen. Appelle der Bundeskanzlerin und des Arbeitsministers zu mehr Home-Office fruchteten nicht. Vu berichtet von stündlichen Kontrollanrufen der Chefs bei Mitarbeitenden in der guten Stube. Die Vertrauenskultur in den Unternehmen scheint unterentwickelt. Es gebe Angst vor Nachteilen und Mobbing. Dabei belegen die Daten, sagt Anne Will, dass ein Prozent mehr Home-Office zu acht Prozent weniger Infektionen führte.

Das Jonglieren mit Zahlen aber, so sieht es aus, scheint eher dazu angetan, den Missmut und das mangelnde Vertrauen in das Management der Krise zu vertiefen. Die Jahrhundertnaturkatastrophe erfordert ein dem Ausmaß der Krise entsprechendes öffentliches Reden. Maulende oder beschönigende Länderchefs werden dem Ernst der Lage nicht gerecht.

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