"Andy Warhol Diaries" auf Netflix:Nah dran am Glück

Lesezeit: 2 min

Warhol spricht die Tagebuch-Passagen in der Netflix-Serie - zumindest ein KI-Programm, das seine Stimme imitiert. (Foto: Andy Warhol Foundation/Netflix)

Melancholie und Euphorie, Rausch und Einsamkeit: die "Andy Warhol Diaries" auf Netflix.

Von Fritz Göttler

Über mich gibt es nicht viel zu sagen, erklärt Andy Warhol und tippt mit dem Finger unters Kinn, so bedächtig wie bedeutungsschwer. Die Netflix-Serie Andy Warhol Diaries ist da anderer Ansicht, sie hat sechs Folgen und wurde produziert von Ryan Murphy, geschrieben und inszeniert von Andrew Rossi. Warhols ganzes Leben wird hier als Coming of age geschildert, von 1928 bis 1987.

Ein Junge, geboren und aufgewachsen in einer Immigrantenfamilie in der schmutzigen Stahlstadt Pittsburgh, von den Klassenkameraden verspottet als Andy Rednose Warhola, ein junger Mann, bedrückt, weil er seine Homosexualität nicht ausleben kann in der restriktiven Gesellschaft - seine große Sehnsucht ist, ein Amerikaner zu werden. Ein ganz normaler american boy. Also macht er sich auf in die große Stadt New York, um sich neu zu erfinden. Ein Außenseiter, der seine Zeit und seine Gesellschaft, die New Yorker Kunst- und Pop-Welt von den Sechzigern an, im Innersten prägte. Eine Welt, in der Selbstdarstellung ganz natürlich war.

Unglaublich bewegend sind die Geschichten um die Männer, hinter denen er her war

Die Andy Warhol Diaries sind keine Tagebücher im klassischen Sinn, die Aura von Intimität und Verschwiegenheit fehlt ihnen. Sie sind 1989 als Buch erschienen, zwei Jahre nach Warhols Tod, herausgegeben von Pat Hackett. Ihr hatte Warhol seit 1976 jeden Morgen um neun Uhr am Telefon erzählt, was er tags zuvor gemacht hatte. Warhol spricht die Tagebuch-Passagen in der Netflix-Serie, nicht der richtige, sondern ein KI-Programm, das seine Stimme simuliert - mit Erlaubnis der Warhol Foundation natürlich.

Die Episoden prägt eine tolle Dialektik von Melancholie und Euphorie, von Rausch und Einsamkeit, durch die New Yorker Schwulenbars, das legendäre Studio 54, die Factory, eine "family of misfits", wo Warhol mit Freunden, Kollegen, Komplizen seine Filme und seine Kunststücke fabrizierte. Wir erleben den Schuss, den 1968 die feministische Autorin Valerie Solanas auf Warhol abfeuerte und den er fast nicht überlebte, die Zeitschrift Interview, das Warhol TV und die berühmten Clips der 15-Minutes-Serie. Unglaublich bewegend - weil qualvoll für Andy - sind die drei Geschichten um die Männer, hinter denen er her war, Jed Johnson, der Innendekorateur, und Jon Gould, Filmproduzent bei Paramount, beide maskulin und selbstbewusst, und der farbenfroh wippende Graffiti-Künstler Jean-Michel Basquiat. Neben ihnen wirkt Warhol wie ein armer Wicht mit traurigem Lächeln.

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Die Serie illustriert höchst emotional Warhols Leben und Schaffen und Einsamkeit. Interviews mit Freunden, Kollegen oder Kritikern, Wochenschau und home movies, Werke und Ausstellungen, aber auch stimmungsvoll Inszeniertes, ein dunkles Wohnzimmer, ein Mann am Fenster. Wenn Andy von Kinobesuchen erzählt, hat die Serie den Filmausschnitt parat, James Dean in "Rebel without a Cause", neben ihm Sal Mineo, der armselige Underdog. Einmal wird von einem Kuss an Silvester erzählt, in einem Urlaub mit Jon Gould im Skiparadies Aspen - lauter straight american boys. Mit diesem Kuss ist Andy ganz nah dran am Glück, also wird er auch illustriert mit einem glückerfülltem Kuss, dem von Rock Hudson und Jane Wyman im ultimativen Melodram "Was der Himmel erlaubt".

Andy sei wie alle großen Schauspieler, sagt die Freundin Debbie Harry zu Beginn, sie weinen nicht und zeigen sich nicht verletzlich. Aber man spürt es, sieht es ihnen an.

Andy Warhol Diaries, auf Netflix.

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