"Anatomie eines Skandals" auf Netflix:Very british verlogen

Lesezeit: 3 min

Im Fokus der Medien: Abgeordneter James Whitehouse (Rupert Friend) mit seiner Frau Sophie (Sienna Miller). (Foto: Netflix)

Die Thrillerserie "Anatomie eines Skandals" ist spannend, hochkarätig besetzt - und zeigt, wie unterschiedlich Menschen die Wahrheit verstehen.

Von Carolin Gasteiger

Die Affäre ihres Mannes könnte Sophie Whitehouse verkraften. Schließlich sei es nur Sex gewesen, ein Fehler, wie James Whitehouse beteuert. Er bereue. Auch öffentlich, denn einen Skandal kann einer wie er nicht brauchen. Das Familienmantra, das seine Kinder stets enthusiastisch wiederholen, lautet schließlich: "Wir sind Whitehouses. Und die gewinnen immer." Also beißt Sophie Whitehouse die Zähne zusammen und steht zu ihrem Mann, immerhin sind sie seit zwölf Jahren verheiratet. An die Substanz geht es ihr erst, als James Whitehouses Mitarbeiterin Olivia Lytten ihn wegen Vergewaltigung anzeigt. Es kommt zum Prozess. Und der ist der Kern der neuen Netflix-Serie Anatomie eines Skandals.

Das Verfahren lässt Sophie Whitehouses Leben langsam zerbröckeln. Nach und nach muss sie sich fragen, ob ihr Mann wirklich der ist, für den sie ihn gehalten hat. "Er ist doch ein guter Mann", sagt sie zum Kindermädchen. "Er ist ein Mann", antwortet dieses.

Dabei schien nach außen doch alles perfekt zu sein: James Whitehouse ist Mitglied des britischen Parlaments und enger Vertrauter des Premierministers, mit dem er in Oxford studiert hat. Auch Sophie hat er dort kennengelernt. In Rückblenden sieht man ihn als Teil einer Verbindung aus weltentrückten Schnöseln ("Lasst uns den Champagner nicht trinken, lasst ihn uns verschwenden!") und sie als Partygirl, das eigentlich englische Literatur studiert. Im Hier und Jetzt sehen beide immer noch unverschämt gut aus, ihre beiden reizenden Kinder haben eine Nanny, ihre Klamotten sind edel, die Wohnung ist luxuriös. Britische Upper Class.

Sienna Miller hat Ähnliches durchgemacht, als sie 2005 die Verlobung mit Jude Law auflöste

Anatomie eines Skandals ist grandios besetzt: Sienna Miller spielt Sophie Whitehouse abgeklärt und souverän. Das Geständnis ihres Mannes nimmt sie schockierend ruhig und beherrscht auf. Erst später übergibt sie sich auf das Handy, auf dem sie eben noch Fotos der Geliebten ihres Mannes gegoogelt hat. Mund ausspülen, abwischen, fertig. Nur ganz zart deutet sich an, wie Sophie immer mehr Zweifel kommen an James' Integrität. Miller hat Ähnliches durchgemacht wie ihre Rolle. 2005 löste sie die Verlobung mit Schauspieler Jude Law, nachdem herausgekommen war, dass er sie mit der Nanny seiner Kinder betrogen hatte. Zunächst habe sie gezögert, die Rolle anzunehmen, erzählt sie der Vanity Fair, dann hätte sie jedoch gereizt, dass Sophie so ganz anders reagiere als sie selbst. Rupert Friend ( Homeland) spielt James Whitehouse ebenfalls famos - fies, arrogant und mit einer guten Portion Ekel. Ein verwöhnter Spross reicher Eltern, der nie gelernt hat, ein Nein zu akzeptieren.

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Und dann wäre da noch die kühle, fast beklemmend beherrschte Anwältin Kate Woodcroft, großartig gespielt von Michelle Dockery ( Dowton Abbey). Sie vernimmt in feinstem british english Klägerin und Angeklagten, hakt nach, nervt, fragt unnachgiebig nach jedem Detail. "Und was passierte dann?" Dazu ein Lächeln, so freundlich, als würde sie nicht nach der zerrissenen Unterwäsche fragen, sondern um ein Glas Milch bitten. Es sind die besten Szenen, weil sie zeigen, wie unterschiedlich eine Situation von den Beteiligten wahrgenommen, gedeutet, erinnert werden kann.

Sarah Vaughan, die die Romanvorlage geschrieben hat, war elf Jahre lang Reporterin beim Guardian. Sie besuchte dort oft Gerichtsprozesse, in denen auch privilegierte Menschen auf der Anklagebank saßen. Eine direkte Ähnlichkeit von James Whitehouse mit Boris Johnson streitet sie zwar ab, jedoch habe sie ein Interview mit Johnson nachhaltig beeindruckt: Die Wahrheit, sagte sie Harpers Bazaar, sei für Johnson extrem formbar. Und das habe sie zu ihrem Buch inspiriert.

Präzise und analytisch: Michelle Dockery als Anwältin Kate Woodcroft. (Foto: Netflix)

Optisch ist die Serie Hochglanz, die Ausstattung, die Kostüme, das Licht. Allerdings stören einige unsinnige Effekte die Handlung. Mal wird James aus dem Nichts in die Luft geschleudert, als würde ihn jemand in den Magen boxen, mal stürzt Sophie im Parlamentsgebäude in die Tiefe.

Ansonsten gibt es viel Gegenwart: ein "Me Too"-Skandal, Politiker ohne moralischen Kompass - man fühlt sich an Boris Johnsons Partygate erinnert - , eine Familie im Fokus einer sensationslüsternen Presse, eine Ehefrau in der Krise. Und, wenn auch nur am Rande, die Queen. In einigen englischsprachigen Rezensionen wird kritisiert, dass man kaum etwas über Olivia Lytten, das vermeintliche Opfer, erfahre. Aber der Fokus ist hier verlagert - auf die Wahrnehmung der Ehefrau, auf die Schäden in der Beziehung. Schlussendlich kommt alles immer wieder auf die Wahrheit zurück und wie unterschiedlich sie in einer Ehe ausgelegt werden kann. Bei einem Drink fragt James seine Mitarbeiterin Olivia, was sie denn bislang in seinem Büro gelernt habe. Ihre Antwort: "Wie man lügt."

Anatomie eines Skandals, sechs Folgen, auf Netflix.

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