Transgender:Im fremden Körper

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Sie will Ungarn jetzt hinter sich lassen: Ivett Ördög (Foto: Amnesty International Hungary)

Ivett Ördög ist in Ungarn als Mann registriert, eine Änderung im Pass verbietet das Gesetz. Wie ist es, als Transfrau in einem Land zu leben, das in dieser Frage unerbittlich ist?

Von Francesca Polistina

Jedes Mal, wenn es darum geht, ein Paket in der Post abzuholen, ein Fahrrad auszuleihen oder zu verreisen, muss sich Ivett Ördög outen - vor fremden Menschen und in Situationen, die unangenehm und sogar gefährlich sind. In Ungarn passiert das häufig: Der Personalausweis wird ständig verlangt, und was für einige langweilige Routine ist, wird für andere zur psychischen Last. Ivett Ördög ist eine Frau, in ihrem Ausweis steht aber ein männlicher Name - welcher, das will sie nicht verraten, denn schon lange hat sie aufgehört, ihn zu benutzen. Sie würde gerne das Private für sich behalten und nicht dazu gezwungen werden, mehrmals pro Woche ihre Dokumente und damit ihre Transidentität preiszugeben. Doch Ungarn macht das nicht möglich.

Am 19. Mai, zwei Tage nach dem Internationalen Tag gegen Transphobie, hat das ungarische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das eine Änderung des in der Geburtsurkunde vermerkten Geschlechtes verbietet. Das bedeutet: die Zuschreibung, die man nach der Geburt bekommt, bleibt für immer. Trans- und intersexuelle Menschen können ihre Ausweisdokumente nicht ändern lassen, obwohl sie bereits als Angehörige des anderen Geschlechts leben. Schon seit 2017 war das Verfahren zur rechtlichen Personenstands- und Namensänderung im Land suspendiert; mit einer Handvoll Ausnahmen waren keine Anträge mehr genehmigt worden. Jetzt ist die finale Entscheidung gefallen. "Ungarn war nie besonders transgenderfreundlich, nun hat sich die Situation deutlich verschlechtert", sagt Ivett Ördög. Sie gehört zu den Menschen, die einen Antrag gestellt haben, aber leer ausgegangen sind. Für die ungarischen Behörden ist und bleibt sie ein Mann.

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An einem Julinachmittag, mitten in der Corona-Pandemie, sitzt Ivett Ördög vor einem Bildschirm und erzählt ihre Geschichte. Sie trägt eine grünblaue Kette mit passenden Ohrringen, ein Kleid mit Blumenmuster. Nach ihrem Outing hat sie sich entschieden, offen über ihr Leben zu sprechen und damit eine Stimme der LGBTQ-Gemeinschaft in Ungarn zu werden. "Ich hatte es so nicht geplant. Ich mag es nicht, in der Öffentlichkeit zu stehen, so wie viele Trans-Menschen auch", sagt sie. Die Dinge verliefen anders.

Im Jahr 2017, nach mehreren Monaten Frustration und Depression, verstand Ivett Ördög, was sie sich selbst lange nicht eingestanden hatte. "Der Grund meiner Krise war, so zu tun, als wäre ich ein Mann", sagt sie. So zu tun, als könnte sie ihre weibliche Seite einfach für immer unterdrücken. Dass das trans sein bedeutet, wusste sie allerdings nicht, sie kannte zu dem Zeitpunkt keine Transsexuellen, in den Medien war das nie ein Thema. Wenige Monate nach dieser "Epiphanie", wie sie es nennt, ging sie zum ersten Mal zum Therapeuten, dann zerbrach ihre Ehe. "Das war einer der härtesten Momente meines Lebens, denn ich liebte meine Frau", sagt sie. Im Herbst 2018, begann Ivett Ördög ihre Hormonbehandlung, die in Ungarn zwar nicht verboten, aber sehr teuer und schwierig zu bekommen ist, denn nur sehr wenige Ärztinnen und Ärzte betreiben sie überhaupt. Dann kam das Outing, für sie eine "Befreiung". Ursprünglich wollte sie das Ende der Transition abwarten, doch ihre Gesichtszüge und ihr Körper waren weiblicher geworden, ihre Freundinnen und Freunde hatten angefangen, sie zu fragen, was denn los sei.

Mehr Toleranz, bitte: Eine Demonstration von Schwulen, Lesben und Transgender-Menschen in Budapest im Juli 2018. (Foto: Gergely Besenyei/AFP)

Seitdem lebt Ivett Ördög ihre weibliche Geschlechtsidentität auch nach außen. "Die meisten Menschen in meinem Umfeld haben positiv reagiert. Für einige Kollegen war meine Transition allerdings ein Problem", sagt sie. Deshalb und weil sie vom Arbeitgeber aufgefordert wurde, eine spezielle Toilette nur für sie zu benutzen, verließ Ivett Ördög ihre Firma und fand einen neuen Job. Die 39-Jährige war schon lange eine erfolgreiche Software-Ingenieurin, sie hielt Vorträge und nahm an Konferenzen teil, "Menschen in der Branche kannten meinen Namen", sagt sie.

So stand sie bald vor der Entscheidung: entweder die neue Identität öffentlich preisgeben oder die Karriere von vorne anfangen. Sie entschied sich fürs Erste. "Wenn jemand meine Geschichte erzählen soll, dann ich", sagt sie. In Ungarn leben circa 3000 Trans-Menschen, die mit LGBTQ-Organisationen Kontakt aufgenommen haben, die tatsächliche Zahl könnte Schätzungen zufolge zehnmal so hoch sein. Die meisten davon wohnen in Budapest, Ivett Ördögs Heimatstadt, die als liberalster und offenster Ort im Land gilt. "Viele ziehen nach Budapest, weil die Stadt für sie sicherer ist als auf dem Land", sagt Dávid Vig, Direktor von Amnesty International in Ungarn. Er sagt, die alltägliche Diskriminierung sei ein wachsendes Problem, und das nicht erst seit der Verabschiedung des Gesetzes im Mai. "Seit 2014 und insbesondere in den letzten zwei Jahren treibt die Regierung eine Schmähkampagne gegen LGBTQ-Menschen voran. Ihnen wird zum Beispiel vorgeworfen, schuld an der niedrigen Geburtenrate in Ungarn zu sein", sagt er. Seiner Meinung nach versucht die Regierung damit, die öffentliche Meinung von Themen wie der Korruption und von weiteren ökonomischen Problemen abzulenken.

"Es gibt noch viel Arbeit zu tun, es gibt viel zu kämpfen"

Ungarn ist das einzige EU-Land, das die Änderung des Personenstands verbietet - obwohl nicht das einzige, das die Rechte von Transgender einschränkt. Für die ungarische Anwältin Bea Bodrogi ist es eine klare Verletzung der Menschenrechte. Im Auftrag der ungarischen Organisation Transvanilla vertritt sie 23 Transgender vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, ein Urteil wird für das kommende Jahr erwartet. Auch das ungarische Verfassungsgericht sollte demnächst eine Entscheidung treffen - wann, ist allerdings noch nicht klar. "Ich bin zuversichtlich, dass wir gute Aussichten haben, denn das Gesetz steht in Kontrast zu den internationalen Menschenrechtsstandards", sagt sie. Das bedeutet aber nicht, dass die Situation sich schnell verbessern wird. Denn sollte das Verfassungsgericht das Gesetz kippen, bräuchte man ein neues Gesetz - und das Parlament könnte sich Zeit lassen. "Es ist wie ein Marathon. Es gibt noch viel Arbeit zu tun, es gibt viel zu kämpfen", sagt die Anwältin, die zusätzlich zu den 23 Klägern gerade an neuen Fällen arbeitet.

Viele Transgender wollen und können aber nicht warten: Einige sind schon ausgewandert, andere planen, das zu tun. So auch Ivett Ördög. Nach der Verabschiedung des Gesetzes im Mai war sie so verzweifelt, dass sie zunächst nicht mal weinen konnte. Dann brach sie zusammen - und entschied sich zu gehen. Sie bewarb sich in einigen deutschen Großstädten und hatte Erfolg. "Ich werde Berlinerin", schrieb sie vor Kurzem auf ihrer Facebook-Seite und postete einen Ausblick der Stadt von oben mit Fernsehturm im Vordergrund. In der Hauptstadt hat sie von September an einen Job gefunden, ihr Freund, der ebenfalls trans ist, wird mitgehen.

Im Vergleich zu Ungarn verfügen Trans-Menschen in Deutschland über deutlich mehr Rechte. Den Vornamen und den Personenstand zu ändern, ist möglich und wird durch das Transsexuellengesetz (TSG) geregelt, das aber seit fast vierzig Jahren in Kraft ist und von den meisten LGBTQ-Organisationen als veraltet betrachtet wird. Auch die Akzeptanz in Deutschland ist höher als in vielen europäischen Ländern, allerdings nicht überall: "Es gibt in Deutschland durchaus No-Go-Areas, die für uns sehr gefährlich sind", sagt Petra Weitzel, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität (dgti). Insgesamt, so Weitzel, sei das Antidiskriminierungsgesetz ein wichtiger Schritt gewesen, "auf der Ebene des Sozialrechts für Trans-Personen tut sich hingegen schon lange nichts".

Sie hat sich bewusst für ein Leben in Deutschland entschieden

Laut der Rainbow Map von ILGA-Europe, dem europäischen Regionalverband der LGBTI-Organisationen, gibt es neun EU-Länder, die in Sachen Transsexualität eine progressivere Gesetzgebung als hierzulande aufweisen und zum Beispiel keine psychiatrische Begutachtung vor der Personenstandsänderung fordern. Trotzdem hat sich Ivett Ördög bewusst für Deutschland entschieden. Mit der deutschen Sprache ist sie vertraut, ein Teil ihrer Familie wohnt in München, wo sie auch gerne hingezogen wäre. Sie sagt, in anderen Ländern sei die Gesetzgebung weiter, der öffentliche Diskurs aber nicht. Außerdem: In Deutschland dürfen auch ausländische Menschen das Transsexuellengesetz in Anspruch nehmen, solange es im Heimatland eine schlechtere Regelung oder keine gibt - wie im Fall Ungarns. Sie dürfen dann Namen und Personenstand bei allen deutschen Behörden wie Bürgeramt und Jobcenter ändern, auch Krankenkassen und Universitäten sind zu einer Änderung verpflichtet.

Einen neuen Personalausweis bekommen sie aber in der Regel nicht, denn das fällt in die Kompetenz des Herkunftslandes. Zwar gibt es in Deutschland die Möglichkeit, einen sogenannten Reisepass für Ausländer zu erhalten, ihn tatsächlich zu bekommen, ist allerdings schwierig. "Meines Wissens nach haben nur sehr wenige Trans-Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit erreicht, dass für sie ein deutscher Reisepass mit geändertem Namen und Personenstand ausgestellt wird. Für EU-Bürgerinnen und Bürger ist es praktisch unmöglich", sagt Kalle Hümpfner vom Bundesverband Trans*.

Ivett Ördög hatte nie gedacht, Ungarn den Rücken kehren zu müssen, es gab sogar eine Phase, als sie sehr patriotisch war. "Bei der Parlamentswahl 2006 habe ich sogar für Fidesz, die Partei von Viktor Orbán, gestimmt. Das ist die einzige Entscheidung, die ich in meinem Leben wirklich bereue", sagt die Ungarin. Sie wirft sich vor, nicht früh genug verstanden zu haben, wie gefährlich und feindselig die Rhetorik der Partei wirklich war. Nun schaut sie nach vorne: Von Berlin erhofft sie sich, ein "normales und ruhiges Leben" führen zu dürfen. "Ich will nicht mehr Ivett, die Transfrau, sein. Ich will Ivett, die Softwareingenieurin, sein", sagt sie. Besser noch: einfach nur "Ivett".

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