Kolumne "Vor Gericht":Tränen

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(Foto: Steffen Mackert)

Ein russischer Auftragskiller tötet in Berlin einen Mann - darum ging es im sogenannten Tiergartenmord. Doch das Mordopfer hat Familie. Und so kommt es, dass im Gerichtssaal große Politik und große Emotionen aufeinanderstoßen.

Von Ronen Steinke

In der Anklageschrift war von "liquidieren" die Rede, von einem "Tötungsauftrag" durch "staatliche Stellen der Zentralregierung der Russischen Föderation". Es ging um einen Auftragskiller Putins. Große Weltpolitik, es war ein Vormittag in einem Hochsicherheitssaal in Berlin, Oktober 2020: Die Juristen schoben das Kinn nach vorne, schon in den ersten Minuten dieses Prozesses wegen des sogenannten Tiergartenmords. Das ist immer noch Deutschland hier! Das war ihre Botschaft. Wir lassen uns von Putin nicht auf der Nase herumtanzen! Das sollte dieser Prozess zeigen.

Vorne erhob sich als Erster der Ankläger. Schwarz sind die Roben der normalen Staatsanwälte. Aber Purpur sind die Roben der Vertreter der Bundesanwaltschaft. Sie reisen eigens aus Karlsruhe an, wenn es um große Politik geht, um Spionage oder Staatsterrorismus. Das war es auch, was uns Journalisten interessierte - die Verwerfungen zwischen Moskau und Berlin, die ein politischer Mord mitten in Deutschland auslösen würde. Der Ankläger begann also vorzulesen, was er dem mutmaßlichen Auftragskiller Putins vorwarf: "... feuerte er seitlich auf den Oberkörper des Geschädigten, der durch die Wirkung des eingetretenen Projektils zu Boden stürzte ..."

Sie weinte. Sie war eine Tochter des Mannes, der von Putins Auftragskiller erschossen wurde

Und dann kam er auf einmal aus dem Takt. Ein Geräusch schien ihn zu stören. Ein paar Meter entfernt von dem Ankläger saß eine junge Frau, Anfang zwanzig, dunkel gekleidet, mit Kopftuch. Sie hatte angefangen zu weinen. Sie war eine Tochter des Mannes, der von Putins Auftragskiller erschossen worden war. Alle im Saal starrten jetzt auf sie, wie sie neben ihrer etwas ratlosen Opferanwältin schluchzte, manche taffe Miene verrutschte dabei, die meisten Mienen blieben taff. Die Aufmerksamkeit, die sich auf sie richtete, war ihr sichtlich unangenehm, sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, machte sich klein, versuchte, die Tränen niederzukämpfen, aber die Kraft, die sie bis dahin aufgewandt hatte, um sich zusammenzureißen, war verbraucht.

Der Ankläger in Purpur, der gerade dabei war zu beschreiben, wie ihr Vater im Dreck liegend gestorben war, blickte auf. Dann las er weiter, "... feuerte aus kurzer Entfernung zwei weitere Schüsse auf dessen Kopf ab ..." Aber zumindest der Ton seiner Stimme war jetzt anders. Es klang weniger nach einer politischen Rede. Bedächtiger. Es ging hier am Ende um einen Menschen, der getötet worden war und der eine Familie hinterließ. Mitunter vergisst man das in politischen Prozessen vor lauter Putin, "Ansehen Deutschlands", "diplomatischer Fallout" und so weiter. Leider manchmal auch als Journalist.

Kolumne
:Vor Gericht

In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. Alle Folgen finden Sie hier.

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