Theater:"Kinder sollen alles zu sehen bekommen"

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Kindertheater waren früher oft albern und belehrend. Heute machen viele Regisseure einfach Kunst - und Kinder lieben es.

Von Verena Mayer

Die Theaterzuschauer sitzen auf dem Schoß ihrer Eltern, denn sie sind sehr klein, fast noch Babys. Immer mal wieder sabbern welche oder schlafen, ansonsten glucksen sie, wenn die Darstellerin auf der Bühne sich mit dem Reißverschluss ihrer Jacke abrackert, während neben ihr ein ungeduldiger Erwachsener steht und helfen will. "Alleine!", sagt die Schauspielerin und stampft mit dem Fuß auf, "alleine machen!" Dann wird sie mit einem Handtuch abfrottiert, lässt einen Luftballon steigen und stapelt Schachteln. Szenen eines Kleinkinderlebens.

Das Ganze ist professionelles Theater. Gemacht von Schauspielern, einem Regisseur, einem Bühnenbildner und einer Dramaturgin des Berliner Grips-Theaters. Nur, dass es sich an ein sehr junges Publikum richtet, genauer gesagt: Zweijährige. Und Babytheater ist nur eines von vielen neuen Dingen für Kinder, die es derzeit auf deutschen Bühnen zu sehen gibt.

Beim Stichwort Kindertheater zucken die meisten erst mal zusammen. Kindertheater, das sind Mehrzweckhallen oder überfüllte Kellertheater, in denen ein Puppenspieler oder eine Laientruppe sonntagnachmittags Märchen erzählen. Kindertheater, das sind Schauspieler mit übergroßen Schleifen oder verkehrt herum getragenen Basecaps, damit ja jeder kapiert, dass es um Mädchen und Jungs geht. Kindertheater, das sind pseudorealistische Stücke über Scheidung, Drogen oder Mobbing, in die man von Eltern oder Lehrern geschleift wird. Vor allem aber ist Kindertheater dieser pädagogische Ton, in dem einem vermittelt wird, dass eine Scheidung echt schwierig, eine Droge richtig gefährlich und Mobbing total gemein ist. Kurz, es gibt wenig betulichere Kunstformen als Theater für Kinder und Jugendliche.

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Wobei man sagen muss: gab. Denn seit einigen Jahren tut sich etwas im deutschsprachigen Theater - inhaltlich wie ästhetisch wird es vielfältiger und auch künstlerischer. Da sieht man Opern für Kinder, Ensembles, die sich mit Globalisierung beschäftigen, oder einen Filmstoff wie "Der fantastische Mr. Fox", in dem Füchse gegen Bauern kämpfen, mit opulenten Tierkostümen und einer fast trickfilmhaften Ausstattung. Man sieht Videos, LED-Wände und Darsteller, die postdramatisch von der Rampe ins Publikum brüllen. Oder eben Babytheater, mit Installationen aus Pappkartons, einem schwebenden, weißen Ballon und Schauspielern, die sich in Zeitlupe bewegen. Als wäre das eine Kunstperformance oder modernes Tanztheater, das den Zuschauer einfach nur mit seiner Schönheit berauschen will.

Drachen, Riesen, dazu ein Zauberschwert

Einer der jungen Wilden ist der Münchner Maximilian von Mayenburg. Den Namen kennt man in Theaterkreisen, Bruder Marius ist ein gefragter Dramatiker. Maximilian von Mayenburg war lange dort, wo man im Theater an Grenzen geht, während des Studiums hat er mit dem Regisseur Christoph Schlingensief zusammengearbeitet. Irgendwann merkte er, welche Grenzen man am Kindertheater einreißen kann. Einfach dadurch, dass man macht, was lange kaum jemand gemacht hat: Kunst.

Er nahm sich Richard Wagners Opernzyklus "Der Ring des Nibelungen" vor und brachte ihn 2011 zu den Bayreuther Festspielen. Eingedampft auf 90 Minuten und mit allem, was Kindern gefällt: Drachen, Riesen, dazu ein Zauberschwert und ein Ring, der die Menschen die seltsamsten Dinge tun lässt. Die gesamte Populärkultur für Jugendliche hantiere mit dem Erbe von Wagner, sagt Maximilian von Mayenburg, ob das die dröhnende Filmmusik aus "Star Wars" ist oder die Themen aus "Der Hobbit", "da macht es doch Sinn, Wagner selbst zu bearbeiten."

Man erreicht Mayenburg spätabends am Telefon, er steckt gerade in Endproben. Wer für Kinder Theater mache, sitze "auf einem riesigen Schatz", sagt Mayenburg. Allein die Geschichten, die man in Opern findet, von Rittern und Königinnen, einem Gral, der gesucht werden muss, oder einem Holländer, der in einem Geisterschiff über die Meere irrt. Und erst die künstlerischen Mittel, "als Regisseur steht mir der ganze Malkasten zur Verfügung, Video, Puppen, Mitmachtheater, Kinder lieben das." Mayenburg hält nichts davon, die Realität für Kinder aufzubereiten, er will Kindern zeigen, was Kunst ist. Und wo Kunst ist, darf man sich auch mal langweilen. "Kinder sollen alles zu sehen bekommen, sie suchen sich selbst heraus, was sie interessiert." Zumal es kein besseres Publikum gebe als Kinder. "Man stellt etwas hin und sagt: Das ist ein Wald, und sie lassen sich darauf ein, weil sie so denken."

Aber ist das auch dort angekommen, wo Kindertheater über Jahrzehnte immer auch Kindererziehung hieß? Berlin, Hansaviertel. Zwischen einem U-Bahnhof und Hochhäusern aus den Fünfzigerjahren liegt ein bunt bemalter Klotz, das Grips-Theater. Die Lage ist Programm, mitten in der Stadt und doch nah an den Brennpunkten. Mit dem sozialkritischen Musical "Linie 1" hat das Theater bundesdeutsche Kulturgeschichte geschrieben, mit Liedern wie "Man muss sich nur wehren" oder "Wer sagt, dass Mädchen dümmer sind" hat es eine ganze Generation geprägt. Am Grips wurde nicht nur Theater für Kinder gemacht, sondern auch die antiautoritäre Gesellschaft entworfen, in der diese Kinder groß werden sollten, der Grat zur Indoktrinierung war manchmal schmal.

In einem vollgestopften Büro sitzt jetzt, ganz in Schwarz gekleidet, Philipp Harpain. Er leitet das Theater seit zwei Jahren und soll es in die neuen Zeiten bringen. Das Grips versteht sich noch immer als politisches Theater mit Themen wie Obdachlosigkeit und Islamismus oder der wahren Geschichte von Nasser, einem arabischen Jungen, der schwul ist und von seinen Eltern zwangsverheiratet werden sollte. Es zeigt auch noch immer die typischen Jugendthemen wie Scheidung, Drogen oder Mobbing, allerdings sind sie ästhetisch anspruchsvoller inszeniert und undogmatischer in ihrer Botschaft.

"Alle außer das Einhorn", das aktuelle Stück über Cyber-Mobbing, verteufelt das Internet nicht und lässt die Frage, wer Schuld hat, angenehm offen. Nur, dass Cybermobbing immer schlimmer wird, wenn man nichts dagegen tut, "ein bisschen Mobbing gibt es nicht", rappen die Schauspieler, während sie mit riesigen transparenten Bällen tanzen, die für die Filterblasen stehen, in denen Menschen sich bewegen, und auf einer LED-Wand blinken die Schimpfworte auf, die in Whatsapp-Gruppen gepostet werden.

Und da sind noch die Erwachsenen

Man könne Kindern viel mehr zumuten als noch vor vierzig Jahren, sagt Harpain, schnelle Schnitte, das Switchen zwischen Ebenen und Medien. Und was macht gutes Kindertheater aus? Dass sich Kinder wiederfinden, sagt Harpain. Und Schauspieler, die glaubhaft Kinder verkörpern. Und zwar nicht, indem sie klein und niedlich wirken. "Einem Kind geht es immer darum, größer zu sein, als es ist, gerade in existenziellen Situationen." Einer seiner Schauspieler könne das selbst im Rentenalter noch. "Der kann mit Vollbart spielen, aber wenn er sagt, er ist ein Kind, dann glaubt man ihm das."

Harpain kommt aus der Theaterpädagogik, ein Zweig, der zuletzt einen enormen Boom erlebt hat. Die meisten Theater- und Opernhäuser beschäftigen Theaterpädagogen, die vor allem eine Aufgabe haben: Kinder und Jugendliche für Theater zu begeistern. In Workshops wie an der Berliner Schaubühne etwa, in denen Schulklassen Szenen aus Hamlet spielen oder über Hamlets berühmte Frage von Sein oder Nichtsein diskutieren. "Die Liebe zum Theater kann in jedem Alter entflammt werden", sagt Wiebke Nonne, Leiterin der Theaterpädagogik. Und das ist kein Wunder. Theater formt sich eine Welt und passiert aus dem Augenblick heraus - die ideale Kunstform für Kinder.

Und da sind noch die Erwachsenen. Die hat Regisseurin Aurelina Bücher im Blick. Bücher lebt und arbeitet in Wien, zusammen mit Kindern hat sie ein Theaterstück über Globalisierung herausgebracht. Schulkinder aus der Mittelschicht und aus Arbeiterfamilien, mit Eltern aus Österreich, Bosnien, Israel oder Japan sprechen in ihren Sprachen und erzählen Geschichten, die sich ausgedacht haben. Es geht um Tourismus und Konsum, Heimat und Identität, gezeigt wird eine Welt von Kindern, die etwas über die der Erwachsenen aussagt. Ihr Vorbild seien die Animationsfilme von Walt Disney, sagt Bücher: "Wenn ich etwas für Kinder mache, sollen sich die Begleitpersonen bitte nicht langweilen."

© SZ vom 16.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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