Am Ende dieser Woche wollen sie die Welt retten, wenigstens ein bisschen. Und weil das hier Deutschland ist, ist Kartoffelsalat das Mittel der Wahl. Er kommt um elf Uhr, in einer Tupperdose, steht dann auf einem Biertisch zwischen polnischen Süßigkeiten, Gebäck und Thermoskannen mit Kaffee. Drumherum sitzen Menschen und reden, in Marzahn, einem Plattenbauviertel im äußersten Osten Berlins.
Das ist im Grunde auch schon das Konzept des Tages der offenen Gesellschaft, zu dem die Initiative Offene Gesellschaft 2018 zum zweiten Mal aufgerufen hat: Tische raus, Essen drauf, Leute einladen, reden. "Mit Kartoffelsalat die Welt retten?" ist in diesem Jahr das nur halbironisch gemeinte Motto. Denn die Initiatoren sind sich sicher: Die, die für eine offene, tolerante Gesellschaft sind, sind in der Mehrheit. Sie müssen sich nur raus trauen auf die Straße. Und vor allem zeigen, dass über Politik und Gesellschaft auch anders diskutiert werden kann als im immerwährenden Katastrophenmodus.
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Tag der offenen Gesellschaft nach einer Woche voller Katastrophen
Nach einer Woche wie dieser wirkt allein das schon irritierend, denn wenn etwas die Nachrichten beherrscht hat, dann der Katastrophenmodus: ein US-Präsident, der via Twitter den anderen G-7-Staaten den Mittelfinger zeigt. Eine Bundesregierung, die sich im Streit um die ewige Asylfrage fast zerlegt. Und dazu noch der inzwischen normale Wahnsinn, den zuletzt die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth in einer persönlichen Erklärung beschrieb: Seit sie eine von der AfD anberaumte Schweigeminute im Bundestag unter Hinweis auf die Geschäftsordnung unterband, erreichen sie massenhafte Morddrohungen: "Dich Vieh werden wir an Klavierdraht am Fleischerhaken hängen."
Am Ende dieser Woche also haben sich, wie um den Nachrichten zu trotzen, 460 Tische in ganz Deutschland auf einer interaktiven Karte eintragen lassen, um den Tag der offenen Gesellschaft zu feiern. In Marzahn-Hellersdorf hat die dortige Freiwilligenagentur, eine Plattform für zivilgesellschaftliches Engagement im Bezirk, zum Frühstück eingeladen. "Mich beschäftigt das Thema schon länger", sagt Organisatorin Julia Gabert, 25 Jahre. Gabert ist in der Agentur zuständig für das Projekt "Integration durch Partizipation - Geflüchtete im Ehrenamt". "Wir haben hier im Bezirk elf Flüchtlingsheime und es läuft gut", sagt sie. "Mich ärgert aber, dass man in den Medien immer nur hört, wenn es irgendwo nicht gut läuft."
Ihr gegenüber sitzt Heike Kramer, 61 Jahre, die seit 13 Jahren in den Plattenbauten über der Freiwilligenagentur wohnt. "Am Anfang haben die Leute schon geguckt, wenn hier plötzlich eine Frau mit Kopftuch reinkam", sagt sie. Dabei sei hier ein Miteinander der Kulturen ganz normal. "In meinem Hochhaus wohnen Russen, Vietnamesen, Deutsche zusammen. Klar gibt es da mal Streit unter Nachbarn - aber eigentlich klappt es." Man dürfe sich eben nicht gegenseitig in Schubladen stecken. "Bei mir denken sich sicher viele: Was ist das für eine Verrückte?" Sie deutet auf die Piercings in ihrem Gesicht, in ihrem kurzen, grauen Haar schimmert noch blass eine bunte Tönung, die Fingernägel sind sorgfältig mit Blumen in glitzerndem Rosa verziert. "Ich bin ja auch verrückt", sagt sie. "Aber manchmal auch eine gesittete ältere Dame, die gern ihren Nachbarn hilft."
Scham und Einsamkeit schüren Misstrauen
Das Problem sei, dass viele gar nicht mehr bemerkten, wie gut es ihnen in Deutschland gehe. "Wir sehen unseren eigenen Reichtum nicht", sagt sie. Da sei es durchaus drin, anderen zu helfen. Das könnte man nun als privilegiertes Gutmenschengequatsche abtun, würde Kramer nicht noch unbefangen erzählen, dass sie auch schon einiges hinter sich hat: geboren in Thüringen, umgezogen nach Bayern, drei Kinder, dann Scheidung, lange Krankheit - und schließlich der rettende Umzug nach Berlin, wo sie endlich sie selbst sein durfte. Und zwar genau hier in Marzahn, das bei vielen anderen Berlinern den Ruf eines trostlosen Elendsviertels hat.
Kramer engagiert sich im Bildungsverein Weltgewandt, macht bei einem Theaterprojekt mit Geflüchteten mit, erst gestern war sie zum ersten Mal in ihrem Leben zum Zuckerfest bei ihren Theaterfreunden eingeladen. Außerdem betreut sie einen behinderten Jungen und hat noch eine neue Idee: "Ich möchte gern in einem Projekt meine Nachbarn nach ihren Geschichten fragen, eine Etage, acht Geschichten". 23 Etagen hat ihr Hochhaus und sie hofft, dass sie viele zum Mitmachen überreden kann.
"Gerade viele alte Leute, die wenig Rente bekommen, obwohl sie ihr ganzes Leben gearbeitet haben, haben kaum Kontakt zu anderen Menschen", sagt sie. "Sie schämen sich und fühlen sich ungerecht behandelt. Das säht natürlich Misstrauen in der Gesellschaft." Misstrauen, das schnell in Feindseligkeit umschlagen kann. "Es gibt hier auch kaum Räume, wo jemand mit wenig Geld einfach mal hingehen kann", sagt sie. Die Plattenbauten, in denen sie ja eigentlich gerne lebt, seien nicht gerade für Begegnungen geschaffen.
So ähnlich sagt das auch Konstantin Welker, der Kampagnen für die Offene Gesellschaft plant: "Als die Stimmung 2015 gekippt ist, hatten wir den Eindruck: Das liegt eigentlich gar nicht an den Geflüchteten. Sondern daran, dass es keine Räume gibt darüber zu reden, wie wir uns unsere Gesellschaft vorstellen." Er steht auf dem Tempelhofer Feld in Berlin-Neukölln, etwa 16 Kilometer entfernt von jenem in Marzahn, und baut mit anderen Initiatoren Zelte, Tische und Infostände auf.
Später soll hier zum Beispiel noch die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli sprechen, zuständig für ehrenamtliches Engagement - und Reizfigur der Rechten. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck unterstützt die Initiative, ebenso die Schauspielerin Katja Riemann und die Moderatorin Dunja Hayali, die in Berlin ihren eigenen Tisch aufbietet. In Marzahn sitzt die Vizepräsidentin des Bundestags Petra Pau mit am Tisch. Auch in anderen Städten hat die Initiative namhafte Unterstützer, zum Beispiel das Schauspielhaus Stuttgart.
Auch das Walddorf Straberg, Oberkrämer und Zirndorf sind dabei
Mascha Roth freut sich aber an diesem Tag über etwas anderes noch mehr. Sie koordiniert die vielen Tische deutschlandweit und sagt: "Beim letzten Mal war noch sehr viel in Städten - diesmal musste ich bei vielen Tischen erst einmal den Ort nachschlagen, weil ich ihn nicht kannte." Der Tag der offenen Gesellschaft sei regionaler geworden, auf Twitter und der Webseite der Initiative laufen Bilder aus dem Walddorf Straberg, aus Oberkrämer und Zirndorf ein. "Wenn man sich das anguckt, dann bekommt man ein ganz anderes Bild von Deutschland."
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Dabei ist das Bekenntnis zur offenen Gesellschaft nicht überall so leicht wie hier. Auf dem Tempelhofer Feld ist jedes Wochenende Tag der offenen Gesellschaft, ganz ohne Aufforderung. An diesem Samstag feiert eine türkische Familie einen Geburtstag unter einem eigens angeschleppten Pavillon, mehrere Familien picknicken unter einem mit Girlanden geschmückten Baum, zwei Mädchen ziehen auf Inline-Skates Drachen hinter sich her, zwei Frauen küssen sich auf einer Bank. Wer all das nicht erträgt, kommt nicht hierher.
"Das ist natürlich eine ganz andere Voraussetzung für einen Tisch als zum Beispiel in Kandel", sagt Mascha Roth. Kandel ist die Stadt, die Auswärtige nur kennen, weil dort ein junger Flüchtling ein Mädchen erstochen hat. Seitdem nutzen Rechte die Stadt für Proteste und Kundgebungen. Doch auch hier hat ein Verein einen Tisch angemeldet.
Sie wollen sich nicht irre machen lassen
Und auch die Initiatoren selbst wollen sich nicht in Berlin einigeln. Sie sind zum Beispiel im vergangenen Jahr mit einem Bus durch jene Regionen getourt, die inzwischen so gern das Adjektiv "abgehängt" angehängt bekommen. "Da ist uns auch Misstrauen entgegengeschlagen", sagt Konstantin Welker. "Wer seid ihr, was wollt ihr hier, wer finanziert euch, seid ihr von der Kirche, von einer Partei?" Dennoch seien oft erstaunliche Gespräche entstanden, über Zusammenhalt und Werte, die Vergangenheit und die Gegenwart.
Dabei müsse es auch nicht immer im strengen Sinne politisch zugehen. "In den vergangenen Jahren bekamen wir von vielen Menschen die Rückmeldung: Es war einfach schön, mal mit Leuten zu reden, die man nicht kannte." Und eben auch mit Leuten, die eine andere Meinung haben als man selbst. Denn was genau eine offene Gesellschaft ist, das wollen die Initiatoren gerade nicht definieren.
Da dürfen sich höchstens jene ausgeschlossen fühlen, für die "offen" und "tolerant" Schimpfworte sind. Auch von denen gibt es inzwischen einige, das weiß, wer hin und wieder Facebook und Twitter öffnet oder auch einfach im Biergarten, in der Kneipe, auf der Straße die Ohren offen hält. Ob dagegen Zuhören und Reden hilft, ob gegen Wut und Hass nicht auch etwas mehr Wut und deutliche Worte angebracht wären - darüber streitet sich die deutsche Mitte seit Monaten, ja, Jahren. Eine Antwort gibt der Tag der offenen Gesellschaft nicht. Aber immerhin eine Ahnung, dass es in Deutschland Menschen gibt, die sich schlicht weigern "irre zu werden" an der Flüchtlingsfrage, wie es Ex-Außenminister Sigmar Gabriel befürchtet. Darauf einen Kartoffelsalat.