Zweitens ist eine solche Norm, die sich nur intellektuell nachvollziehen lässt, "schwer zu verstehen", sagt Ullrich. "Die Beziehung zwischen Normbruch und dem Schaden, der dadurch entsteht, ist sehr komplex." Moralisch ungleich komplizierter zu bewerten als "Ich klaue dir 100 Euro aus deinem Portemonnaie". Dem Kollektiv zu schaden - was heißt das eigentlich? Was sind schon die 20 Euro auf meinem Bewirtungsbeleg angesichts eines Bundeshaushalts von 302,9 Milliarden Euro? Es ist ihre Komplexität, die diese Norm dem Verständnis derer entzieht, die sich eigentlich an sie halten sollen. Deswegen forderte der damalige Präsident des Bundesfinanzhofs, Wolfgang Spindler, bei der Schattenwirtschaftstagung 2010 unter anderem eine verständlichere Steuerpolitik.
In seinem Vortrag machte Spindler (neben dem oben erwähnten Gerechtigkeitsempfinden) einen dritten Faktor aus, der die Steuermoral beeinflusst: die Individualisierung. Unter dem Schlagwort vom Wertewandel noch so ein Grundbegriff der Soziologie. Veränderung kollektiv verbindlicher Werte, Auflösung verbindlicher sozialer Strukturen, Pluralisierung der Lebensstile. Das große normative Gerüst steht zwar noch da. Wie man sich darin zu bewegen hat, ist aber größtenteils jedem selbst überlassen.
In demselben Maße wie viele einst verbindliche soziale Regeln wegfallen, wächst die moralische Anforderung an den Einzelnen. "Jeder muss für sich reflektieren, sich gegebenenfalls zwischen konkurrierenden Normen entscheiden. Das kann auch schnell überfordern und zum Normbruch führen", sagt Ullrich. Beim Klettern im Regelgerüst die Sprosse "Als Fußgänger bei Rot stehenbleiben" ignorieren, sich stattdessen für mehr Coolness und Selbstbewusstsein entscheiden? Astronomische Summen an Steuern zahlen oder doch lieber durch Spenden die Gesellschaft direkt da unterstützten, wo es mir wichtig ist? Bei der Förderung von Frauen und Mädchen zum Beispiel?
Oder doch bei Rot stehen bleiben? Selbst wenn weit und breit keiner zu sehen ist? "Klar, es gibt immer noch Menschen, die sich extrem regelkonform verhalten", sagt Ullrich. Aber die werden immer weniger. In den neunziger Jahren ordnete ein soziologisches Standardwerk noch 18 Prozent der Bevölkerung dem Milieu der "Konventionalisten" zu, denen Pflicht und Akzeptanz am wichtigsten sind. Inzwischen dürften das noch deutlich weniger sein. Was aus Sicht der Steuerbehörden womöglich bedauerlich ist. Aus demokratischer Sicht dagegen nicht. Über die Risiken obrigkeitsgläubiger Gesinnung herrscht schließlich und glücklicherweise breiter Konsens.
So ist es also am Ende an jedem Einzelnen, sich selbst von der Sinnhaftigkeit eines normkonformen Verhaltens zu überzeugen. Wo der Pfarrer nicht mehr mit dem Fegefeuer droht, wo ein bisschen Schummeln vielerorts sogar zum Zeitgeist gehört, wo die Angst vor direkten beruflichen Konsequenten gering ist, muss jeder ADAC-Mitarbeiter für sich entscheiden, wie verwerflich ein paar Zahlendreher sind.
Und vielleicht liegt am Ende hier auch die Erklärung für die ehrliche Empörung über Schwarzers Steuerdelikt: Wo die klassischen Normenmaschinen - Staat, Kirche oder Familie - verschwinden, übernehmen prominente Einzelpersonen diese Funktion. Menschen, denen durch ihr Amt (des Bundespräsidenten) oder ihre Äußerungen ("Der Motor meines ganzen Handelns ist die Gerechtigkeit") ein besonders hohes Maß an moralischer Integrität zugesprochen wird. Und von denen wir besonders enttäuscht sind, wenn wir erkennen, dass sie auch nur Menschen sind, verirrt im Normendschungel.