Dem Geheimnis auf der Spur:Encephalitis lethargica

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Um die rätselhafte Schlafkrankheit geht es auch im Film "Zeit des Erwachsens" mit Robert De Niro (rechts) und Robin Williams. (Foto: imago images / United Archives)

Die "Schlafepidemie" befiel vor allem zwischen 1916 und 1950 etwa eine Million Menschen weltweit, mit schwerwiegenden Folgen für die Gesundheit. Die Ursachen sind bis heute ungeklärt.

Von Alexander Menden

In Penny Marshalls Film "Zeit des Erwachens" von 1990 ist in einer bewegenden Szene festgehalten, wie ein Patient eines New Yorker Krankenhauses namens Leonard Lowe (Robert De Niro), aus einem Jahrzehnte währenden Dämmerzustand erwacht. Der behandelnde Arzt, gespielt von Robin Williams, kommt eines Abends in den Saal, in dem Leonards Bett steht, findet dieses jedoch leer vor. Leonard sitzt an einem Tisch. "Hier ist es aber ruhig", sagt er. "Es ist schon spät, alle schlafen", erklärt der Arzt. "Ich schlafe nicht", antwortet Leonard. Ein kleiner Moment des Triumphes.

"Zeit des Erwachens" basiert auf den Erinnerungen des britischen Neurologen Oliver Sacks. Er hatte sich seit Mitte der Sechzigerjahre mit einer Patientengruppe im Beth Abraham Hospital in der Bronx befasst, die zum Teil seit 40 Jahren unbeweglich und nicht ansprechbar gewesen waren. Sie waren Überlebende der rätselhaften "Europäischen Schlafkrankheit", deren wissenschaftlicher Name Encephalitis lethargica lautet, und die von 1916 bis 1926 weltweit in epidemischem Ausmaß gewütet hatte. Sacks begann, den Patienten die Aminosäure L-Dopa zu verabreichen, mit der damals bereits die Symptome der Parkinson-Krankheit behandelt wurden, und erzielte einige Anfangserfolge, die Marshalls Film zeigt.

Der Körper der Kranken schien zu schlafen, aber sie blieben sich der Umgebung bewusst

Die Encephalitis lethargica wurde Ende 1917 von Constantin von Economo bei der Behandlung von Patienten am Psychiatrisch-Neurologischen Klinikum der Universität Wien beschrieben. Mehrere von ihnen wiesen ungewöhnliche neurologische Symptome auf; allen gemein war eine ausgeprägte Lethargie. Sie waren mit ganz unterschiedlichen Diagnosen - darunter Meningitis, Multiple Sklerose oder Delirium - aufgenommen worden. Keiner von ihnen passte jedoch wirklich in eines der betreffenden Diagnoseschemata. Nach einer Periode allgemeinen Unbehagens sahen die meisten eine Zeit lang doppelt, bekamen bisweilen leichtes Fieber und wurden dann von einer tiefen Schläfrigkeit befallen. Doch der Begriff "Schlaf", der dieser Krankheit ihre Volksbezeichnung der "Europäischen Schlafkrankheit" einbrachte, war irreführend: Während der Körper der Erkrankten alle Anzeichen von Schlaf aufwies, blieben sie sich ihrer Umgebung vollständig bewusst.

Economo - ein in Rumänien geborener österreichischer Arzt griechischer Abstammung, der mit vollem Namen Constantin Alexander Freiherr Economo von San Serff hieß - kategorisierte die Symptomgruppe als eigenständigen Krankheitstypus, den er 1917 Encephalitis lethargica nannte. Der französische Pathologe Jean-René Cruchet hatte die rätselhafte Erkrankung sogar schon etwas früher beschrieben, und zwar 1916. Er hatte die spezifischen Symptome bei französischen Soldaten nach der Schlacht bei Verdun festgestellt. Im folgenden Jahrzehnt erkrankten weltweit zwischen 500 000 und einer Million Menschen. In Deutschland wurde in den Zwanzigerjahren der Neurologe Felix Stern zum führenden Experten für die Krankheit. Er sammelte an der Göttinger Nervenklinik viele wertvolle Daten zum Krankheitsverlauf und wies besonders auf die Gemeinsamkeiten des vielfältigen Leidens hin.

Auffällig gefährdet waren Kinder und Jugendliche sowie Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Ein Drittel der Erkrankten starb in der akuten Phase, normalerweise an Ateminsuffizienz. Autopsien ergaben, dass in erster Linie der Hirnstamm von der Entzündung betroffen gewesen war. Wer überlebte, litt an starken Konzentrationsstörungen und einem Gefühl des Identitätsverlusts. Charakterliche Veränderungen äußerten sich zudem in Impulsivität, einem Bedürfnis nach Lärm, fehlender oder auch vereinzelt extrem gesteigerter Empathie und, nach der Geschlechtsreife, in zum Teil unkontrollierbarer sexueller Übergriffigkeit. Encephalitis lethargica war eine der ersten Erkrankungen, die klarmachten, dass es kaum möglich war, die psychischen und physiologischen Aspekte des Gehirns scharf zu trennen. Die Degeneration des Gehirns schritt nämlich fort. Es konnte Tage oder auch Jahrzehnte dauern, bis bei den Patienten ein sogenannter postenzephalitischer Parkinsonismus auftrat. Ihre Unfähigkeit, mit der Welt zu interagieren, in Kombination mit ihrem ausdruckslosen, unbeweglichen Parkinson-Gesicht und ihrer Muskelsteifheit, ließ sie wie lebende Statuen erscheinen.

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Felix Stern, nach dessen Schätzungen allein in Deutschland um die 60 000 Menschen an dieser Art Enzephalitis erkrankten, vermutete früh, es könne ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dieser und der Spanischen Grippe bestehen. Beide traten zur gleichen Zeit auf. Er distanzierte sich später wieder von der These, aber auch andere haben versucht, diesen Zusammenhang herzustellen. Eine Untersuchung von archivierten Gewebeproben 2001 konnte jedoch keine Influenza-RNA bei den Patienten nachweisen. Auch andere virale Auslöser wie Herpes oder auch bakterielle wie Scharlach galten zeitweise als mögliche Kandidaten.

Nach der Epidemie verschwand die Krankheit weitgehend. Es gab noch mögliche Einzelfälle, zuletzt einen siebenjährigen Jungen mit geschwächtem Immunsystem, bei dem 2015 im chinesischen Jinan Encephalitis lethargica diagnostiziert wurde. Die Ursache dieser für ein Jahrzehnt aufgeflammten, heute extrem seltenen Nervenerkrankung bleibt ein Rätsel. Vielleicht werden wir nie erfahren, ob die "Europäische Schlafkrankheit" durch eine Infektion, eine Reaktion auf einen mikrobiellen Wirkstoff, einen neurotoxischen Schadstoff oder einen anderen, unerforschten Auslöser verursacht wurde.

Oliver Sacks' Experiment mit der Gabe von L-Dopa in den Sechzigerjahren war nur kurz von Erfolg gekrönt. Nach einer Besserungsphase traten bei den Patienten extreme Ticks und Krämpfe ein. Trotz einer Erhöhung der Dosis fielen sie schließlich einer nach dem anderen wieder in ihren katatonischen Zustand zurück.

© SZ vom 17.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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