Pakistan:Wo Bildung kostbar ist

Lesezeit: 5 min

Im Klassenzimmer herrscht die Art von lärmender Stille, die kleine Jungs für Schweigen halten. (Foto: David Pfeifer)

Fast die Hälfte der Kinder in Pakistan geht nicht in die Schule. Bei einem Unterrichtsbesuch in Peschawar wird klar: Die Probleme gehen schon bei der Uniform los.

Von David Pfeifer, Peschawar

Vielleicht lässt sich der Wohlstand einer Gesellschaft daran ablesen, wie gerne die Kinder zur Schule gehen. In Peschawar auf jeden Fall, in Pakistan, gehen sie sehr gerne. Sie müssen dann nicht arbeiten, um Geld für den Lebensunterhalt der Familie beizusteuern, oder zu Hause oder auf dem Hof mithelfen. Sie können ein paar Stunden am Tag lernen, etwas wissen, sich melden, Quatsch machen. Im Innenhof der Jungenschule hört man Stühle quietschen, es wird viel getuschelt und aufgeregtes Lachen unterdrückt. Die Art lärmende Stille, die kleine Jungs für Schweigen halten.

Im ersten Stock in einem der Klassenräume drängen sich 55 Schüler zusammen, teilweise zu dritt in einer Bank. Einige tragen Mützen, auch hier ist der Winter eingezogen, zwölf bis 14 Grad am Vormittag, aber Heizungen gibt es keine in dem Gebäude. Die Jungs lernen heute Tiere und Pflanzen zu unterscheiden, anhand eines Schaubuchs. "Granatapfel", sagt einer auf Englisch, steht auf und zeigt den entsprechenden Zweig. "Palme", ein anderer, der ein Palmblatt vor sich streckt. Die Rucksäcke sehen schon reichlich mitgenommen aus, wer Glück hatte, konnte sich einen mit "Spiderman"-Motiv sichern. Ob der ihr Liebling ist? "Ja." Welche Superhelden sie sonst kennen? Kichern, Unsicherheit, "die sehen das nur auf dem Smartphone der Eltern, wenn sie da mal ran dürfen", sagt ihr Lehrer, "sie kennen die Namen der Comics nicht".

Peschawar ist eine Millionenstadt in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Früher war sie ein bedeutender Handelsposten in Grenznähe. Seit 1979, dem Bürgerkrieg und der Invasion der Sowjetunion in Afghanistan, ist Peschawar auch eine Flüchtlingsstadt. Es leben hier mehrheitlich Paschtunen, die auch in Afghanistan die größte Bevölkerungsgruppe bilden. Im Westen verbindet man die Stadt am ehesten mit Terror, es gab immer wieder Anschläge, in den vergangenen 20 Jahren - Osama bin Laden unterhielt hier ein Haus, das als Wiege der al-Qaida galt. Fährt man heute durch Peschawar, sieht man viel bröckelnde Schönheit und Armut. Seit dem Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan steigen auch die Flüchtlingszahlen wieder.

Muhammed Afzal Khan ist der Direktor der Schule in Sufaid Dehri. (Foto: David Pfeifer)

Insgesamt etwa 580 Jungs gehen im Stadtteil Sufaid Dehri täglich zur Grundschule. Es gibt auch noch eine Schule für Mädchen, aber die darf man als Mann, auch als Journalist, nicht betreten. Dass die Schulen gut besucht sind, ist keine Selbstverständlichkeit. Etwa 44 Prozent der Kinder in Pakistan gehen nicht zur Schule. Derzeit entspricht das 22 Millionen. Menschen, die später unqualifiziert in den Arbeitsmarkt drängen werden und häufig nicht mal lesen und schreiben können.

Newsletter abonnieren
:SZ Familie-Newsletter

Erfahren Sie jeden Freitag im kostenlosen Newsletter alles, was Eltern interessiert. Kostenlos anmelden.

Muhammed Afzal Khan, der Direktor der Schule in Sufaid Dehri, erklärt, wo die Probleme losgehen: "Bei den Schuluniformen. Etwa 2000 Rupien kostet eine Schuluniform, sie brauchen aber zwei, und das doppelt, für Sommer und Winter." Das sind 8000 Rupien pro Kind, etwa 35 Euro. Viel Geld für Eltern, die ihr Geld mit dem Verkauf von Gemüse oder mit Taxifahren verdienen. Die Uniform, ein Überbleibsel der englischen Kolonialzeit, eigentlich gut, um die Klassenunterschiede unsichtbar zu machen, wird da zur Hürde. Auch die Lernbücher, die in einen Schrank im Lehrerzimmer gequetscht werden, sind so abgegriffen, dass sie sich schon einmal um sich selbst rollen.

Die Schulunterlagen biegen sich im Regal des Lehrerzimmers. (Foto: David Pfeifer)

Im Lehrerzimmer tagt gerade das "Parents Teacher Council", der Eltern-Lehrer-Beirat, den sie gegründet haben, um solche Probleme zu lösen. "Wir sammeln für arme Familien, wenn es an der Uniform scheitert", sagt Afzal Khan, "oder helfen bei Amtsgängen." Denn auch die Behörden machen es den Menschen schwer, vor allem denen, die aus Afghanistan geflüchtet sind. "Sie müssen ihre Kinder bei zwei Stellen anmelden, bevor sie in die Schule dürfen", so Afzal Khan. Es gibt hier eigentlich eine Schulpflicht. Und ein Recht auf Bildung. Nur muss man sie eben auch wahrnehmen können.

Kinder sind im Notfall ein Ersatz für Sozial- oder Rentenversicherung

Dass die Menschen in dieser Region, egal ob Pakistaner oder Afghanen, viele Kinder bekommen, liegt auch daran, dass man in einer Großfamilie besser abgesichert ist. Kinder sind im Notfall ein Ersatz für Sozial- oder Rentenversicherung. Wer aber in die Schule geht, wird zur Belastung, ein Mund mehr zu füttern, und wenn dann noch Schwierigkeiten mit den Behörden dazukommen, ist die Versuchung groß, die Kinder gar nicht mehr in den Unterricht zu schicken. Man muss also Aufklärungsarbeit leisten, erklären, dass die Bildung von heute das bessere Einkommen von morgen sein kann. Für die gesamte Familie. Auch deswegen engagieren sich die Männer aus dem Eltern-Lehrer-Beirat in ihrer Nachbarschaft und in den Flüchtlingscamps, die nach über 40 Jahren Krieg im Nachbarland schon lange "Refugee Villages" genannt werden.

Shams Uddin hat zehn Kinder, sechs Töchter und vier Söhne. (Foto: David Pfeifer)

Shams Uddin ist einer der engagierten Väter. Ein 40-jähriger Afghane, als kleines Kind mit seinen Eltern aus Dschalalabad geflohen. In Pakistan wurde er selbst Vater von zehn Kindern, sechs Töchtern und vier Söhnen. 1998 kehrte Uddin in seine Heimat zurück. Doch dann wurde sein Vater umgebracht und das Haus der Familie abgebrannt, also kam er zurück nach Pakistan. Seine zwei jüngsten Söhne gehen hier in Sufaid Dehri zur Schule. "Ich würde mir wünschen, dass sie Ingenieure werden, in einem richtigen Büro arbeiten können, vielleicht sogar in Deutschland", sagt er und lacht. Uddin selbst ist Schuhmacher, spezialisiert auf die typischen Sandalen der Region.

Und seine Töchter, sind die in der anderen Schule? "Ja, die sollen auch eine gute Ausbildung bekommen, damit sie später nicht nur auf ihre Männer angewiesen sind", sagt er. Für einen Paschtunen ist das eine geradezu feministische Sichtweise. Dass die Taliban in seiner Heimat die Mädchen nicht mehr zur Schule gehen lassen wollen, findet Shams Uddin folgerichtig nicht gut. "Aber sie sind immerhin gemäßigter als noch vor 20 Jahren, generell wollen sie Schulbildung ermöglichen", sagt er. Für seine Töchter ist es trotzdem besser, in Pakistan aufzuwachsen. Auch im Beirat der Mädchenschule sitzen sie einmal im Monat zusammen, um die Rahmenbedingungen für den Schulbesuch zu definieren. Wer unterrichten darf, wie hoch die Mauern sein müssen, hinter denen sich die Mädchen, vor allen Blicken geschützt, frei bewegen können.

Nina Harnischfeger von der GIZ unterstützt mit Know-how und Logistik. (Foto: David Pfeifer)

Unten im Hof steht Nina Harnischfeger, die als Mitarbeiterin der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), etwa 60 Schulen wie diese im ganzen Land unterstützt, vor allem mit Know-how und Logistik. Wie geht man mit dem Geld um, das man bekommen hat, wie dokumentiert man die Ausgaben, solche Dinge. Ihrer Erfahrung nach fehlt es nicht so sehr am Willen, sondern an Ressourcen und Erfahrung. "Es gibt dann schon auch kompliziertere Fälle, wenn man beispielsweise die Mädchen in die Schule bekommen will. Dann muss man mit den religiösen Führern sprechen und die Bedingungen klären", sagt die 33-Jährige. Am wichtigsten aber sei das Training der Lehrer und der Eltern, die sich im Beirat engagieren, bei der Betreuung von Schülern mit einer Behinderung zum Beispiel. Die muss ja erst mal festgestellt werden, wenn die Kinder beispielsweise Hör- oder Sehschwächen haben. Manchmal hilft es schon, sie ganz nach vorne zu setzen, damit sie dem Unterricht besser folgen können.

Die Schüler haben sich nun langsam an den Besuch gewöhnt, es ist leiser geworden im Gebäude. Der Hausmeister führt stolz durch die Einrichtung, zeigt die neuen Wasserspender, an denen man sich zwischendurch die Hände oder das Gesicht waschen kann. Eine Treppe führt hoch zum Flachdach, auf dem man beten muss oder spielen darf. Drei Jungs üben gerade Badminton und kommen neugierig angelaufen. Sie erzählen, dass sie die Schulmeisterschaften gewinnen wollen.

Man hat vom Dach auch einen guten Blick über die karge Landschaft und den Friedhof hinter der Schule. Von einem zum anderen Ort sind es ja gar nicht so viele Jahre. Nur entscheidet sich hier, am Anfang, in der Schule meistens, wie gut man die Zeit bis dahin verbringt.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusBildung
:Was kostet die Schule?

Unterricht ist in Deutschland kostenlos. Trotzdem zahlen Eltern im Schnitt 200 Euro allein am Schuljahresanfang pro Kind, Tendenz steigend. Über die Aushöhlung der Lernmittelfreiheit in Zeiten der Inflation.

Von Lilith Volkert

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: