Optimale Kinderbetreuung:"Es geht um Kompetenzen, nicht um Wissen"

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Kinder unter drei Jahren können durchaus naturwissenschaftlich gefördert werden - wenn die Pädagogen Zeit für sie haben. (Foto: luxuz::. / photocase.com)

Kinderkrippen mit Abholservice, Klavierunterricht und Kinderyoga sind nur für wenige erschwinglich. Vertieft qualifizierte und teure Betreuuung den Graben zwischen privilegierten und sozial benachteiligten Familien? Ein Gespräch über Möglichkeiten, Grenzen und Auswüchse frühkindlicher Förderung.

Von Violetta Simon

Sie nennen sich Wichtel Akademie, Queens & Kings Childcare oder Villa Ritz - luxuriöse Kinderkrippen mit Abholservice, bilingualen Erzieherinnen, Klavierunterricht und Kinderyoga. Meinen Politiker und Lehrer wirklich das, wenn sie mehr Konzentration auf die frühkindliche Bildung fordern? Oder handelt es sich um ein elitäres Angebot für eine Klientel, die sich gerade von jenen abgrenzen möchte, die frühkindliche Bildung am meisten bräuchten: Kinder aus sozial schwachen Familien oder mit Migrationshintergrund? Ilse Wehrmann gilt als Pionierin der Frühpädagogik. Im Interview mit Süddeutsche.de warnt die Sozialpädagogin davor, frühkindliche Bildung den Gutverdienenden zu überlassen. Ein Gespräch über Möglichkeiten, Grenzen und Auswüchse frühkindlicher Förderung. Und warum Kinder keinen Luxus brauchen - sondern Zeit.

SZ.de: Der jüngsten Allensbach-Studie zufolge beklagen zwei Drittel der Lehrer ungleiche Bildungschancen für Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Investieren wir genug Geld in die Bildung unserer Kleinsten?

Ilse Wehrmann: Nein, bei Weitem nicht. Wir haben nach wie vor einen Mangel im Bereich der frühkindlichen Bildung. Was wir brauchen, ist ein Bildungsfonds, der etwa über einen Solidarpakt finanziert wird.

Was würden Sie mit dem Geld machen?

In erster Linie eine einheitliche Grundstruktur für die Einrichtungen schaffen, die unabhängig ist vom finanziellen Hintergrund der Eltern, dem Familienbild eines Bürgermeisters und der Finanzkraft einer Kommune. Stattdessen nach Empfehlung internationaler Experten: je jünger die Kinder, desto kleiner die Gruppen; je größer die Gruppen, desto höher der Erzieher-Kind-Schlüssel. Außerdem brauchen wir eine Qualitätskontrolle, damit nicht jede Erzieherin und jeder Träger nach eigenen Vorstellungen arbeitet. Wir hinterlassen unseren Kindern einen immensen Schuldenberg und muten ihnen zu, bis 70 zu arbeiten. Da müssen wir sie wenigstens für die Zukunft rüsten. Alles, was wir jetzt versäumen, ist später irreparabel.

Manche Eltern sind bereit, in die Betreuung und Bildung ihrer Kinder zu investieren. Exklusive Betreuungs-Oasen für eine zahlungskräftige Klientel sind stark im Kommen. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein?

Dass Eltern so viel bezahlen, hat ja nur den Grund, dass sie sich um die Existenz ihrer Kinder sorgen. Dass sie selber unter Druck stehen und versuchen müssen, Familie und Beruf zu vereinbaren. Wir brauchen dazu aber keine Hightech-Einrichtungen oder besondere Angebote, sondern eine gute, frühe Allgemeinbildung. Das heißt nicht, dass man nicht über bestimmte Angebote nachdenken kann. Statt jedoch gesellschaftliche Gruppen zu trennen, sollte man die Einrichtungen lieber integrativ und inklusiv führen. Dazu brauchen wir in erster Linie Erzieher mit einer hohen Fachkompetenz, die den Kindern die Welt erklären. Das ist keine Frage des Geldes, sondern der Rahmenbedingungen.

Welche Angebote halten Sie im Bereich der frühkindlichen Bildung für sinnvoll?

Ich bin für eine zweisprachige Erziehung. Also nicht zusätzlich im Kurssystem, sondern nach der Inversionsmethode - eine "Native Speakerin", die den ganzen Tag auf Englisch oder Französisch spricht, tröstet, singt und mit den Kindern spielt. Natürlich sollte man auch Angebote in den naturwissenschaftlichen Bildungsbereichen machen und experimentieren. Es geht dabei aber nicht nur um Wissen - es geht um Kompetenzen. Den Kindern sollte in jedem Fall Feinfühligkeit, emotionale und soziale Kompetenz vermittelt werden.

Plädiert für höhere Qualitätsstandards in der Kinderbetreuung: Diplom-Sozialpädagogin Ilse Wehrmann (Foto: privat)

Was braucht es dazu?

Zeit für die Kinder, also einen entsprechenden Personalschlüssel: auf drei Kinder eine hochschulausgebildete Pädagogin, wie es international üblich ist. Und nicht wie in Niedersachsen, wo eine Erzieherin und eine Pflegerin eine Gruppe mit 15 Kindern im Alter von acht Wochen bis dreieinhalb Jahren betreuen.

Kann es den Kindern schaden, wenn beruflich stark involvierte Eltern die frühkindliche Bildung rund um die Uhr auslagern?

Kinder sind soziale Wesen, die den Kontakt zu Gleichaltrigen brauchen. Ideal ist es, wenn sie zwischen eineinhalb und zwei Jahren in eine gute Kita kommen. Die muss natürlich vernünftige Öffnungszeiten haben. Häufig stehen diese im Widerspruch zur Berufstätigkeit der Eltern, die ja nicht immer Teilzeit arbeiten. Also finden sie Notlösungen - etwa vorher und hinterher zur Tagespflege. Deshalb brauchen wir Kindergärten und -krippen aus einem Guss, die den Bedürfnissen der Eltern entsprechen.

Mittlerweile bieten viele Kindertagesstätten auch Betreuung außerhalb der Öffnungszeiten sowie Abhol- und Bring-Service oder kurzfristige Babysitter-Dienste.

Ich denke, die Kitas dürfen nicht zu einem Stundenhotel verkommen. Wir brauchen Öffnungszeiten von mindestens acht bis neun Stunden täglich, die eine verlässliche Struktur für die Eltern bieten. Zuverlässige Betreuung in Randzeiten - frühmorgens oder später am Abend - sind durchaus wünschenswert. Was wir nicht brauchen, sind täglich wechselnde Betreuungszeiten und Betreuungspersonen. Aber auch die Arbeitswelt muss familienfreundlicher werden, etwa durch flexiblere Arbeitszeiten. Tagesstätten können nicht alles abdecken, es muss eine Struktur geben, die sich nach den Bedürfnissen von Eltern und Kindern richtet.

Einige exklusive Betreuungsstätten werben mit stilvollen Altbau-Villen, französischen Kindermöbeln, Bewegungslounges und Balletträumen. Brauchen Kinder so etwas für eine optimale Betreuung?

Das brauchen eher die Eltern. Solche utopischen Vorstellungen haben nichts mit der realen Welt zu tun, in den Schulen finden sie so was später ja auch nicht. Sicher, man benötigt gute Räumlichkeiten, aber vor allem benötigen wir Profis, die Zeit haben, die Kleinen kompetent zu begleiten. Kinder brauchen keine Villen, sondern Orte, in denen sie experimentieren und Erfahrungen machen können. Keine Räume, in denen sie etwas ganz Besonderes erleben, sondern in denen sie sich wohlfühlen. Wir dürfen die frühkindliche Bildung nicht den Gutverdienenden überlassen. Es muss die Kita, den Kindergarten für alle geben.

Kinder brauchen einen Ort zum Experimentieren, keine Luxusmöbel, findet Ilse Wehrmann. (Foto: Anja Greiner Adam - Fotolia)

Manche Krippen bieten neben einer bilingualen Erziehung auch Ballettunterricht, Einzelunterricht in Klavier und Geige, Kinderyoga und sogar Benimm-Unterricht. Ist qualifizierte Betreuung immer umso besser, je ausgefallener und teurer sie ist?

Ich halte von solchen überzogenen Angeboten nichts. Sinnvoller ist es, wenn man eine gute Pädagogik macht, an der alle teilhaben können. Jedes Kind hat einen Anspruch auf einen Bildungsplan. Wenn wir die Rahmenbedingungen dafür geschaffen haben, haben wir schon sehr viel für Kinder getan.

In vielen privaten Kindertagesstätten sind biologische Menüs unter Berücksichtigung individueller Essgewohnheiten eine Selbstverständlichkeit. Sollte gesunde Ernährung nicht auch Teil der frühkindlichen Bildung sein, auf den alle Kinder ein Recht haben?

Absolut! Essen und Trinken ist ein Lebensgenuss, es muss ja kein Drei-Sterne-Menü sein. Ich bin dringend dafür, dass in den Kitas gekocht wird, unter ernährungswissenschaftlichen und biologischen Gesichtspunkten. Wir haben Kinder mit Allergien und zusätzlichen Diäten, von daher halte ich es für wichtig, sie nicht an Kantinenessen zu gewöhnen. Die Kinder sollten unbedingt teilhaben an der Zubereitung, aber auch lernen, wie der Tisch gedeckt wird - das kann man in den Einrichtungen in Italien besonders gut sehen.

Ist das denn finanziell drin?

Warum begegnet uns bei Kindern immer gleich die Frage nach dem Geld und nicht nach den Inhalten? Das stört mich. Fehlernährung zu vermeiden, ist ja auch gesundheitliche Prävention. Wir denken in dieser Hinsicht nicht nachhaltig genug.

Immer wieder beklagen Lehrer, dass sie mit Erziehungsarbeit beschäftigt sind, statt mit der Vermittlung des Stoffs. Bleibt die soziale Kompetenz zugunsten der leistungsorientierten Erziehung auf der Strecke?

Das eine muss das andere nicht ausschließen. Ich glaube, dass viele Eltern selber den Druck spüren und deshalb meinen, sie müssten die Startchancen der Kinder erhöhen, indem sie solche zusätzlichen Angebote finanzieren. Wichtiger ist es, Zeit für sie zu haben. Damit stärken sie auch ihre seelische Widerstandsfähigkeit. Kinder müssen vorbereitet werden auf Übergänge, und das werden sie nicht, indem man ihnen Ballett und Geigenunterricht ermöglicht. Das können sie noch früh genug wahrnehmen.

Was ist mit denen, die frühkindlicher Förderung am meisten bedürfen, weil sie sie in ihrem privaten Umfeld nicht erhalten?

Dass wir gerade Kindern mit Migrationshintergrund und aus sozial benachteiligten Familien zu wenige Startchancen geben, halte ich für eines der größten Probleme. So nehmen zum Beispiel gerade die Krippen nur Kinder von berufstätigen Eltern, damit haben wir später in den Kindergärten schon eine besonders geförderte Gruppe - wobei die Kindergärten meiner Meinung nach gar nicht vorbereitet sind auf derart kompetente Kinder. Wenn wir die Kinder bereits am Anfang spalten, dann setzen wir die falschen Akzente und spalten am Ende die Gesellschaft.

Wie wollen Sie das verhindern?

Ich denke dabei zum Beispiel an eine Kindergartenpflicht und eine Krippenpflicht für Kinder ab zwei. Wir haben keinen anderen Rohstoff als die Bildung unserer Kinder. Alles, was wir hier versäumen, holen wir mühsam mit Integrationsmaßnahmen nach, deshalb plädiere ich dafür, früh zu investieren - statt spät zu reparieren.

Sind Sie optimistisch, dass wir das hinbekommen - jetzt, wo die Regierung das Betreuungsgeld durchgesetzt hat?

Ich glaube, dass wir durch die Diskussion um den Rechtsanspruch vor einer neuen Entwicklung stehen und dass es im Wahlkampf zum Thema wird. Ich denke, dass wir die Qualitätsstandards und deren Finanzierung anders in den Blick nehmen. Eine Krippen- oder Kindergartenpflicht würde der Rabenmutterdiskussion ein Ende bereiten. Außerdem müssten für alle Kinder Betreuungsplätze geschaffen werden, niemand würde leer ausgehen - die Finanzierungsfrage wäre damit geklärt, da sie dann auf Bundesebene geregelt wird. Ich möchte an dieser Stelle aber festhalten, dass eine Krippen- oder Kindergartenpflicht nur in guten Kindertageseinrichtungen mit einheitlichen Rahmenbedingungen und Qualitätsstandards vorstellbar ist. In der jetzigen Situation ist eine Krippen- oder Kindergartenpflicht nicht zu verantworten. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Solidarität für eine Krippen- und eine Kindergartenrevolution. Hier ist es nicht nur mit Pflästerchen getan - es muss eine größere Operation vorgenommen werden.

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