Die Not derjenigen, die nachts draußen schlafen, sie ist oft gut verborgen vor den Blicken der anderen. An der Wittelsbacherbrücke in München war das zum Beispiel so. Bis vergangenen November, als die Stadt das Lager auflöste, campierten hier mehrere Obdachlose, und wer schnellen Schrittes unter dem Brückenbogen durchging, der nahm von all den Matratzen, Schlafsäcken, Wolldecken, Lumpen, Plastiktüten, Pappverschlägen und Pfandflaschen vielleicht nur beiläufig Notiz. Gab ja auch fast nie Probleme mit den Bewohnern hier. 15, 20 Sekunden maximal, dann war das im Schatten gelegene Obdachlosen-Camp aus dem Blickfeld und die Sicht war wieder frei auf die renaturierte Isar und die Flussauen.
Zehn Kilometer weiter westlich, im Stadtteil Pasing, ist das anders. Das, was man hier sieht, an einem eisig-sonnigen Januarmorgen, mitten in einer Einkaufsstraße und nur wenige Meter vom Bahnhof entfernt, ist verstörend. Hier haben die Obdachlosen ihr angestammtes Areal verlassen. Sie schlafen nicht unter Brücken oder in der Bahnhofsmission, wie es in dem albernen Fußballlied heißt, sondern mitten im Licht. Unmöglich zu ignorieren für die Passanten, liegen Matratzen, Schlafsäcke, Wolldecken, Lumpen, Plastiktüten, Pappverschläge und Pfandflaschen im Eingang eines vor einigen Monaten aufgegebenen Kaufhauses. Das Elend bricht erbarmungslos hinein in die Normalität einer Stadt, die zu den schönsten, saubersten und sichersten der Welt gehört.
Nicht mehr vermittelbar
"Was ist das denn?", sagt eine Passantin zur anderen. Während die beiden diskutieren, dass doch niemand in Deutschland so leben müsse, überlegt man, ob das Zucken unter einer der Decken ein Mensch ist, der hier geschlafen hat und jetzt gerade aufwacht.
Es ist ein Mensch. Zehn Minuten später sitzt die Frau, die Angie genannt werden will, aufrecht vor ihrem Lager. Angie, 51, Sonnenbrille, schwarzes Baseball-Cap, zwei Jacken übereinander, erzählt, dass sie seit 25 Jahren mehr oder weniger auf der Straße lebe. Mehr oder weniger deshalb, weil sie von Zeit zu Zeit Unterschlupf hat, bei Bekannten, "aber dann verstreitet man sich irgendwann und ist wieder auf der Straße". Auch Arbeit hat sie tageweise, jedenfalls im Sommer, in einem Gartenbaubetrieb, ebenfalls über einen Bekannten organisiert. "Normal bin ich nicht mehr vermittelbar", sagt Angie. Sie weiß sich zu wehren, sagt sie, gegen Pöbeleien zum Beispiel oder aufdringliche Männer, aber die Notunterkünfte mag sie trotzdem nicht, vor allem der Drogen wegen, die viele Bewohner dort nähmen.
Los Angeles:Gestrandet in Venice Beach
Auf den Straßen von Los Angeles leben 53 000 Menschen, die kein Zuhause haben. Die Bürger finden, den Armen muss geholfen werden - aber bitte nicht neben meinem Loft.
Angie weiß, dass sie wohl bald weg muss, hier aus dem Kaufhaus-Eingang. Irgendwann werden Polizisten kommen oder Mitarbeiter des Sozialreferats oder eine Entsorgungsfirma, die alles in Müllcontainer wirft, was Angie und die anderen nicht vorher zusammengerafft haben. 13 Obdachlosencamps hat die Stadt München im vergangenen Jahr aufgelöst und sie wird auch in diesem Jahr ähnlich verfahren.
Erst am Dienstag wurde ein Camp von etwa 20 Obdachlosen geräumt, in einer Unterführung, die zwei der begehrtesten Wohngebiete der Stadt verbindet. Jetzt hängen nur noch mit schwarzem Tape festgeklebte Zettel an der Wand. Darauf steht, in Polnisch, Ungarisch, Rumänisch, Bulgarisch, Serbisch, Englisch und Deutsch, unter welcher Telefonnummer sich diejenigen, die bei der Räumung nicht anwesend waren, ihre Sachen abholen können.
Weißer Sack über den Kopf
Eine hitzige Debatte entwickelte sich: Ist es legitim, dass das Ordnungsamt einschreitet, wenn mehrere Obdachlose ein Camp bilden? Hat eine Stadt sogar die Pflicht zu reagieren und ein Camp zu räumen, wenn, wie vor ein paar Tagen in Hannover und in Berlin, Obdachlose in der extremen Kälte erfroren sind, oder, wie im November in München, in einem Lager unter einer Brücke eine Matratze in Brand geraten ist? Oder muss man akzeptieren, dass es Menschen gibt, die lieber draußen schlafen als in einer Notunterkunft, die sich allen Hilfsangeboten verweigern und am Rande der Gesellschaft in Ruhe gelassen werden wollen?
Isarvorstadt:Die Räumung von Obdachlosencamps ist richtig
Am Dienstagmorgen hat die Stadt das Lager unter der Kapuzinerstraße räumen lassen. Ist das herzlos? Nein. Denn Experten wissen: Wer dort lebt, tut das eben meist nicht freiwillig.
In Berlin erregte vor einigen Tagen die Räumung eines Camps im Ulap-Park nahe dem Hauptbahnhof Aufsehen. Ein Video im Internet zeigt eine Gruppe von Polizisten, die um eine offensichtlich obdachlose Frau herum gruppiert sind. Eine Beamtin stülpt der Frau einen weißen Sack, später hieß es: ein Tuch, über den Kopf, und es sieht so aus, als ob sie den Sack oder das Tuch zuzieht. Die Maßnahme habe der Eigensicherung der Beamten gedient, die Haare der Frau seien von Läusen befallen gewesen und sie sei die einzige in diesem Obdachlosen-Camp, die sich der ansonsten friedlichen Räumung aggressiv widersetzt habe, heißt es bei der Polizei.
"Die Bilder haben auch mich verstört, aber die Räumung war aber auch rückblickend notwendig", sagt Stephan von Dassel, der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte. Der Grünen-Politiker hat viel Kritik einstecken müssen. Vor allem in seiner eigenen Partei und bei SPD und Linken wird heftig über die Räumung von Obdachlosen-Camps in Berlin debattiert. Dass in einer Pressemitteilung des Bezirks mit Blick auf die von der Frau zurückgelassenen Gegenstände zu lesen war, die Stadtreinigung habe "acht Kubikmeter Unrat beseitigt", hat die Stimmung zusätzlich aufgeheizt. "Was wir uns bei der Räumung im Ulap-Park vorhalten lassen müssen, ist, dass wir den psychischen Zustand der Frau, der im Bezirksamt bekannt war, nicht genügend berücksichtigt haben", sagt Dassel.
"Ein Amtsarzt, besser eine Amtsärztin. Ein Sozialarbeiter, besser eine Sozialarbeiterin. Und zwei bis vier Polizisten im Abstand von etwa acht Metern", so hätte nach Meinung von Dieter Puhl die Räumung geordneter ablaufen können. Puhl, 61, hat bis Dezember die Bahnhofsmission am Zoo in Berlin geleitet. "Zwei Sätzen widerspreche ich immer", sagt er am Telefon. Der erste Satz sei das Gerücht, dass viele ihr Dasein als Obdachloser selbst gewählt hätten. "In 26 Jahren als Sozialarbeiter habe ich nicht einen Menschen kennengelernt, bei dem das haltbar gewesen wäre", sagt Puhl. Der zweite Satz laute: Es gibt Menschen, die nicht zu erreichen sind. In der Bahnhofsmission hätten sie vor Jahren das Konzept der mobilen Einzelfallhelfer entwickelt. "Zielgruppe waren die, die buchstäblich am Sterben sind, diejenigen, die Sie in der U-Bahn vielleicht nicht sehen, aber aus 20 Metern Entfernung am Geruch erkennen". Selbst in dieser Gruppe habe man 80 Prozent der Menschen helfen können.
Auch wenn Puhl die Räumung im Ulap-Park kritisiert, nimmt er die Polizisten, die dabei waren, in Schutz. Die Beamten seien überfordert gewesen, man könne ihnen aber kaum vorwerfen, dass ihnen psychiatrisches Fachwissen fehle. Ein Punkt, in dem sich Puhl mit Bezirksbürgermeister Dassel einig ist. Der verfolgt den Ansatz, Obdachlose auf lange Sicht "in Richtung Hilfsannahme zu bewegen". "Wenn wir die Camps gewähren lassen, dann können die Obdachlosen vielleicht 30 Euro verdienen, indem sie Flaschen sammeln oder betteln, aber der Druck etwas zu verändern, ist dann nicht da. Ich finde, es ist sozialer, den Druck in Richtung Hilfesysteme und Rückkehr in die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, anstatt die Menschen sich selbst zu überlassen", sagt Dassel.
Der Bezirksbürgermeister will jetzt seine Ordnungsamtsmitarbeiter erneut coachen lassen, außerdem prüft er Bodycams für möglicherweise umstrittene Einsätze und ist aufgeschlossen für einen Vorschlag der Sozialsenatorin, die ehemalige Obdachlose als Lotsen für die Menschen engagieren will, die aktuell auf der Straße leben. Eines jedoch lehnt er ab: Camps für einen längeren Zeitraum zu dulden. Alle größeren Städte in Deutschland sind in einem Dilemma in dieser Frage. David Lukaßen, Sprecher bei der Sozialsenatorin in Bremen, ist einer der wenigen Verwaltungsvertreter, die das offen zugeben.
In Bremen gebe es mehrere Hot-Spots, so der Senatssprecher, unter anderem am Güterbahnhof und im Nelson-Mandela-Park, beides unweit des Hauptbahnhofs. Die Stadt setze nicht sofort eine Räumung an, wenn sich mehrere Obdachlose zusammenfinden, aber dauerhafte Camps akzeptiere man nicht. Man wolle keine "Sogwirkung" erzeugen und verhindern, dass immer mehr völlig mittellose Menschen aus dem Ausland nach Bremen kommen.
Zwar hat kaum eine Stadt genaue Daten, aber die Behörden merken, dass vor allem die Zahl der aus Osteuropa kommenden Obdachlosen in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Sie kommen zum Arbeiten nach Deutschland, der EU-Binnenmarkt garantiert ihnen Freizügigkeit. Doch oft geht der Wunsch nach einem besseren Leben in Deutschland nicht in Erfüllung - und sie finden sich auf der Straße wieder, häufig in Obdachlosen-Camps. 150 Personen umfasse die Gruppe der Osteuropäer, sagt Lukaßen, von insgesamt 500 bis 600 Personen, die in Bremen auf der Straße leben. Auch das sind nur Schätzungen.
Menschen, die etwa aus Rumänien oder Bulgarien kommen, haben meist keinen Anspruch auf Sozialleistungen und dauerhafte Unterbringung. Die Städte gewähren dieser Gruppe von Obdachlosen lediglich Nothilfen, Kälteschlafplätze und kostenloses Essen. Sozialverbände kritisieren das. "Unterbringung berührt das Recht auf Leib und Leben", sagt etwa Werena Rosenke, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. "Es ist ein Graubereich", sagt Lukaßen. Es müsse im Winter niemand auf der Straße übernachten. Aber Menschen aus Osteuropa, die keine Aussicht auf einen Job hätten, mache man auch Angebote, um in ihre Heimat zurückzukehren. "Den typischen Obdachlosen gibt es ohnehin nicht", sagt Lukaßen, und so müsse man jeden Fall einzeln prüfen.
Das versuchen sie auch in Berlin. Im Bezirk Lichtenberg, in der Rummelsburger Bucht, unweit des S-Bahn-Rings, hat sich ein größeres Obdachlosen-Camp gebildet. Dutzende Menschen leben hier. Ursprünglich erwog die Verwaltung auch für dieses Camp eine Räumung, doch jetzt gilt eine Frist bis Ende April. Bis dahin kümmern sich Streetworker und Sozialarbeiter um diejenigen, die hier campieren. Es wurden Toiletten und Waschgelegenheiten aufgestellt. Sie wollen versuchen, möglichst vielen hier passende Hilfe zu vermitteln und vielleicht eine Unterkunft. Sie wollen sich mehr Zeit nehmen - und Szenen wie im Ulap-Park verhindern.