Kolumne: Vor Gericht:Tod im Supermarkt

Lesezeit: 2 min

Warteschlange in einem Discount-Supermarkt (Symbolbild). (Foto: Manfred Segerer/Imago)

Zwei Menschen, die sich noch nie gesehen haben, stehen an der Warteschlange vor der Kasse. Danach nimmt eine Tragödie ihren Lauf.

Von Verena Mayer

Wer sich mit Verbrechen beschäftigt, wird oft gefragt, was das mit einem macht. Von einer Jugendrichterin weiß ich, dass sie durch ihren Beruf große Angst um die eigenen Kinder hat. Eine Staatsanwältin erzählte mir, dass sie darunter litt, durch Drogen abgestürzte Menschen auch noch anklagen zu müssen. Manche Strafverteidiger sammeln Kunst, um den Abgründen etwas entgegenzusetzen, in die sie in ihrem Job schauen. Als Prozessbeobachterin finde ich die Verbrechen gar nicht einmal das Schockierendste. Sondern die Banalität, durch die sie oft ausgelöst werden.

Einen Fall werde ich nie vergessen. Er spielt 2003 an einem ganz normalen Tag an einem ganz alltäglichen Ort, nämlich in einem Berliner Supermarkt. Dort treffen zwei Menschen aufeinander, die sich noch nie im Leben gesehen haben. Eine junge Frau, die gerade in den Supermarkt gelaufen ist, um Schlagsahne für die Geburtstagstafel ihres Mannes zu holen, die Torte steht zu Hause auf dem Tisch, der kleine Sohn ist schon ganz aufgeregt. Sie hat es so eilig, dass sie keinen Einkaufswagen nimmt, sondern die Sahne in ihren Beutel steckt. Das sieht ein alter Mann, der gerade Flaschen im Supermarkt zurückgibt, er kommt aus seinem Garten und trägt noch die Arbeitshose. Der alte Mann findet es nicht okay, dass die Frau die Sahne in ihren Beutel packt. Er ist eine andere Generation, und als die beiden an der Kasse stehen, fragt er die Kassiererin, ob "das heutzutage so üblich sei". Im Prozess kam nicht heraus, warum er die Frau nicht direkt ansprach. Und warum diese nicht einfach selbst darauf antwortete. Fest stand nur, dass die Frau nach Hause ging und ihrem Mann davon erzählte. Dass sie sich wie eine Diebin behandelt gefühlt habe. Und dass ihr Mann in den Supermarkt lief, um den Rentner zur Rede zu stellen.

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Bis heute frage ich mich, was den Mann dazu gebracht hat, seine eigene Geburtstagsfeier zu verlassen. Bis heute erschüttert mich die Absurdität der Ereignisse. Der Mann findet den Rentner tatsächlich auf der Straße vor dem Supermarkt und spricht ihn von hinten an. Doch der Rentner hat sein Hörgerät nicht an, er wollte ja nur kurz in den Supermarkt, und reagiert nicht. Nun zieht der Mann an der Tasche des Rentners, um sich bemerkbar zu machen. Der Rentner glaubt, er werde überfallen, und greift in die Hosentasche. Dort steckt noch das Klappmesser vom Gemüseschneiden. Er zieht es hervor und sticht zu. Der Mann wird mitten ins Herz getroffen.

Vor Gericht ging es darum, ob der Rentner in Notwehr gehandelt hat. Die Richter fanden, er sei in Panik geraten, und sprachen ihn frei. Der Alte bekam das kaum mit, er saß zusammengesunken auf der Anklagebank, weil er es nicht "fassen konnte, dass ein Sohn seinen Vater verloren hat". Im Saal waren noch die Witwe des Opfers und ihr Schwiegervater. Sie weinten genauso wie der alte Mann und seine Frau. Ein Mensch tot und fünf Leben zerstört, wegen einer Nichtigkeit.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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