Mikrozensus zu Familienformen:Ostdeutsche misstrauen der Ehe

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Im Osten ist gerade mal jedes zweite Elternpaar verheiratet. Kein Wunder, sagen Familienforscher. Es gibt dort mehr Betreuungangebote und die Frauen sind wirtschaftlich unabhängiger. Im Westen hingegen hält sich das konventionelle Familienideal - noch.

Jana Stegemann

Ein beliebtes Spiel im Kindergarten heißt Verliebt-Verlobt-Verheiratet, ein anderes Vater-Mutter-Kind. Doch nicht nur zwischen Sandkasten und Puppenecke, auch in der deutschen Sozialpolitik ist das klassische Familienideal das Leitbild - und soll es nach Willen der konservativen Parteien auch bleiben. Doch die Realität sieht anders aus, besonders in den neuen Bundesländern. Das zeigen die Ergebnisse des Mikrozensus, der größten jährlichen Haushaltsbefragung in Deutschland und Europa.

Die klassische Familie ist in Deutschland auf dem Rückzug: Besonders im Osten wachsen immer mehr Kinder bei Alleinerziehenden oder Paaren ohne Trauschein auf. (Foto: MAK - Fotolia)

In Ostdeutschland wird weniger geheiratet. So waren im vergangenen Jahr in 75 Prozent der westdeutschen Familien mit minderjährigen Kindern die Eltern verheiratet. In Ostdeutschland (neue Länder einschließlich Berlin) hingegen nur 54 Prozent. Für Gesamtdeutschland bedeutet das, dass 71 Prozent der Familien mit Trauschein leben.

Die Erklärung für den Unterschied von 20 Prozentpunkten zwischen West- und Ostdeutschland hat Jürgen Dorbritz. Er ist Wissenschaftlicher Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. "Generell lässt sich sagen, dass im Osten Deutschlands durch wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen schon immer kaum Zwang zur Versorgungsehe bestand." Dobritz, der in der DDR aufwuchs, erkennt sogar "ein gewisses Misstrauen in Ostdeutschland gegenüber sozialen Institutionen des Westens, wie der Ehe".

Der Ursprung des häufigen Heiratsverzichts liege in der Familienpolitik der DDR, so Dorbritz weiter. "Damals gab es zahlreiche Leistungen, die alleinerziehende Mütter in Anspruch nehmen konnten. Außerdem sind die Versorgungsunterschiede bei der Betreuung wie vor sehr groß. In Ostdeutschland bekommt man beispielsweise viel schneller einen Kita-Platz."

Die außerhäusliche Kinderbetreuung werde im Osten außerdem stärker gesellschaftlich akzeptiert, fügt Dorbritz hinzu. "In vielen katholischen Regionen werden Mütter, die ihre Kinder in Kitas geben, immer noch als Rabenmutter gesehen." 2011 waren etwa ein Viertel (26 Prozent) der Erwachsenen in ostdeutschen Familien alleinerziehend, in Westdeutschland knapp ein Fünftel.

Einen hohen Anteil unverheirateter Mütter habe es im Osten schon immer gegeben, berichtet der Experte für Familienforschung. Die Begründung hierfür sieht Dorbritz in den Strukturen der DDR, wo die Religion eine untergeordnete Rolle gespielt hat. Außerdem sei die Entwicklung auch historisch bedingt, ds die Bevölkerung im Osten eher evangelisch sei und die im Westen eher katholisch. Und die katholische Kirche ist seit jeher in vielen Dingen konservativer als die evangelische.

Die Unterschiede der Familienformen in Ost und West sind - laut Mikrozensus 2011 - also auch mehr als zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch groß und in den vergangenen 15 Jahren sogar noch gewachsen.

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