Medizin und Wahnsinn: Folge 149:Marathonläufer auf Kriegspfad

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Thrombose-Kniestrümpfe in Neonfarben, Klebebänder, die wie Kriegsbemalung aussehen: viele moderne Sport-Accessoires sind einfach zum Davonlaufen.

Werner Bartens

Der neueste Clou beim Marathon, vergangene Woche bei der Hatz durch München zu bewundern: Thrombose-Kniestrümpfe in verschiedenen Neonfarben von Giftgrün oder Quietschgelb bis Lachsorange. Die medizinische Begründung für die modische Scheußlichkeit ist von bestechender Klarheit. "Dann fließt das Blut schneller in den Körper zurück", erklärt ein erschöpfter Läufer seinen Mitläufern im Ziel. Man würde den Herrn gerne fragen, wo er sein Blut während des Laufs deponiert hat, man kommt ja schließlich unterwegs an einigen Kliniken vorbei. Vielleicht plant er auch Doping mit Eigenblut, und wenn es irgendwann durch die Strümpfe zu ihm zurückgeflossen ist, sind ungeahnte Höchstleistungen damit möglich.

Doch der blutleere Herr ist offenbar gut zu Fuß und schon im Gewühl vor den Ergebnislisten verschwunden. Die drängenden Fragen bleiben unbeantwortet, vielleicht leidet er auch nur unter körperlichen Entfremdungserlebnissen. "Und wenn ich geh', dann geht nur ein Teil von mir'', singt Peter Maffay, und man würde den Barden bei Gelegenheit gerne fragen, welches seiner Teile er am liebsten zurücklässt und ob er vor dem Abschied verschiedene Organe und Gliedmaßen deponieren kann. "Und wenn ich lauf', dann läuft nur ein Teil von mir'', ist jedenfalls als Motto für eilige Marathonis unbedingt geeignet.

Sie sind es ohnehin gewöhnt, ihren Körper beim Laufen nur partiell einzusetzen und den Rest auf Sparflamme zu halten. Kognitive Tests haben bei Ausdauerathleten immer wieder ergeben, dass sie nach dem Rennen Schwierigkeiten mit einfachen Rechenaufgaben hatten und ihr Gedächtnis erstaunliche Lücken aufwies. Diese passagere Teilleistungsschwäche des Gehirns ist wohl auch ein Grund dafür, dass ein paar Läufer beim Marathon eine Art Thrombose-Stutzen trugen, bei denen die Füße vergessen wurden. Gut, auf diese Weise fließt das Blut bestimmt schneller wieder in die Füße zurück, doch die Kompressions-Wadenwärmer drosseln die Verbindung zum übrigen Kreislauf.

Ein weiteres sportmedizinisches Accessoire, das bei jedem Ausdauerlauf bewundert werden kann, ist das ebenso bunte wie elastische Klebeband auf Arm oder Bein, das an die Kriegsbemalung indigener amerikanischer Ethnien erinnert. Von den Pflastern sind wahre Wunderdinge zu erwarten. ,,Das hält die Muskeln zusammen'', erklärt eine Läuferin, und es ist unbedingt zu begrüßen, dass die Muskeln nicht einfach so im Körper herumvagabundieren, sondern sich mit ein bisschen buntem Tesa viel heimattreuer und ortsgebundener anspannen.

Man fragt sich nur, warum noch kein findiger Unternehmer auf die naheliegendste Geschäftsidee gekommen ist. Wenn statt des Sieges die Niederlage droht und statt eines Streckenrekords die Aufgabe, ist das ja in erster Linie ein mentales Problem, wie seit Boris Becker jeder weiß. Abhilfe könnten Stützstrümpfe oder Klebebänder für den Kopf bringen. Dezent gehalten in Form eines Haarnetzes oder grellbunt als modisches Signal, das als Irokesen-Kamm, im Fassonschnitt oder auch als Pagenkopf lieferbar wäre.

Die einen bekleben und bandagieren sich den Nacken, andere nur den behaarten Schopf und die besonders Bedürftigen den ganzen Kopf wie bei einer Maske unter dem Helm von Ski- und Motorradfahrern. Eine solche elastische Sturmhaube wärmt und schützt gegen Wind, hält das Hirn zusammen und den Kopf offen und hilft nebenbei vermutlich sogar beim kleinen Einmaleins. Man muss allerdings aufpassen. Werden die Zug- und Scherkräfte zu groß, besteht die Gefahr, dass Resthirn in den Körper zurückfließt. Dann gilt: Und wenn ich denk', dann denkt nur ein Teil von mir.

© SZ vom 16.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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