Jugendliche:Warum sich Kinder so wenig bewegen

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Die räumlichen Angebote für Kinder und Jugendliche sind lausig. (Foto: Ralph Peters/imago)

Vier von fünf Jugendlichen bewegen sich viel zu wenig. Schuld sind Stadtplaner, Bildungspolitiker - und eine Gesellschaft, die Erwerbsarbeit wichtiger findet als Familie.

Kommentar von Barbara Vorsamer

Als wir klein waren, sind wir draußen herumgestromert." So verklären viele Erwachsene ihre Kindheit. Es mag sein, dass viel Nostalgie dabei ist. Tatsächlich aber ist der Radius, in dem sich Minderjährige frei bewegen, geschrumpft, von mehreren Kilometern in den Sechzigern auf im Schnitt 500 Meter heute. So überrascht das Ergebnis der WHO-Studie nicht, wonach sich Jugendliche zwischen elf und 17 Jahren nicht einmal eine Stunde am Tag bewegen. Eine Verkehrsplanung, die das Auto in den Mittelpunkt stellt, lädt nicht zum Radeln, Rollern, Rennen ein. 2019 verstopften 47 Millionen Pkws Deutschlands Straßen. 1980 waren es noch nicht einmal halb so viele.

Auch jenseits der Straßen ist der Raum für Jugendliche begrenzt. Schulhöfe sind nach Unterrichtsende verschlossen, Spielplätze meistens für kleinere Kinder konzipiert. Wenn es überhaupt etwas für Teenager gibt, sind es Bolzplätze, eventuell noch mit Basketballkorb. Das könnte erklären, dass sich Jungen zumindest ein bisschen mehr bewegen als Mädchen. Die wenigen lausigen Angebote richten sich an sie. Es braucht mehr Orte, die alle zur freien Bewegung einladen, und weniger Schilder mit "Betreten verboten".

Eine verpflichtende Stunde Sport am Tag

Sport treiben Kinder heutzutage fast ausschließlich im Unterricht oder im Verein, doch lange nicht ausreichend. Die Ausstattung vieler Schulen mit Hallen, Geräten, gar Schwimmbädern ist mangelhaft, Fachlehrer fehlen, Unterricht fällt oft aus. Sportstunden gelten Bildungspolitikern und Eltern anscheinend als am ehesten verzichtbar. In den USA ist das anders. Schülerinnen und Schüler haben dort verpflichtend eine Stunde Sport am Tag, weswegen das Land in der WHO-Studie zu den Spitzenreitern zählt. Deutschland sollte sich daran ein Beispiel nehmen.

Immer weniger Kinder treiben hierzulande freiwillig Vereinssport, was auch daran liegt, dass sie häufig bis zum Spätnachmittag betreut sind. Danach bleibt keine Zeit fürs Training, weswegen dieses in die Ganztagsbetreuung integriert werden müsste. Doch solange sich Bund und Länder streiten, wer überhaupt die Kosten für den Ausbau übernimmt, ist nicht zu hoffen, dass sie sich auch noch mit der Vereinslandschaft auf Reformen einigen.

Das System stellt Erwerbsarbeit über alles

Wer bleibt? Die Eltern, die sich selbst um die Bewegung ihrer Kinder kümmern müssten. Doch wann? Die mangelnde sportliche Aktivität von Jugendlichen gehört zu den Folgen der mangelnden Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Mütter stellen nicht mehr alle mittags eine Mahlzeit hin, kontrollieren Hausaufgaben und schicken das Kind danach in den Hof oder zum Training, wie das in Westdeutschland lange üblich war. Frauen sind mit immer mehr Wochenstunden berufstätig, und das ist auch politisch so gewollt. Für die vielen Dinge jedoch, die Hausfrauen und Mütter früher unentgeltlich erledigt haben, fehlen politische Lösungen.

Dass sich Kinder weniger bewegen, schlechter essen, öfter Nachhilfe brauchen, ist kein Versagen der Eltern. Es sind die Folgen eines gesellschaftlichen Systems, das Erwerbsarbeit über alles stellt. Hätten Eltern mehr Freiheit, fiele es ihnen leichter, auch Kindern mehr Freiheit zuzugestehen. Wer nur zwei Stunden täglich für die Familie hat, sagt nicht ausgerechnet dann: "Geh raus", schon gar nicht, wenn draußen Lkw ohne Abbiegeassistenten lauern. Es braucht mehr Raum für Kinder: auf der Straße und im Leben.

© SZ vom 23.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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Bericht der WHO
:Vier von fünf Jugendlichen bewegen sich zu wenig

Die meisten Schulkinder weltweit treiben nicht genug Sport - vor allem die Mädchen. Deutschland schneidet im internationalen Vergleich schlecht ab.

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