Deshalb ist er Ende vergangenen Jahres für einen Nachmittag nach Mannheim gefahren, seine gerade erwachsen werdende Tochter hat dem Papa ihr Auto geliehen. Er besuchte die Hildegard Lagrenne Stiftung, die sich für die gesellschaftliche Teilhabe von Sinti und Roma einsetzt. Micksch will diese große Minderheit stärker einbinden in die Internationalen Wochen gegen Rassismus. Auch die sind seine Erfindung und sind inzwischen auf 1400 Veranstaltungen bundesweit gewachsen. Also hört er Romeo Franz, dem Chef der Stiftung zu, wie dieser das belastete Nebeneinander der "Mehrheitsgesellschaft" und der Sinti und Roma beschreibt. Micksch stellt Fragen, tastet sich vor. Am Ende nehmen sich die beiden zehn Veranstaltungen fürs kommende Jahr vor, ein Anfang, immerhin.
Früher war Tutzing der zentrale Knoten in Micksch' Netz, heute ist es Darmstadt, wo der Interkulturelle Rat seinen Sitz hat. Auch den hat er gegründet, dort führt er als Vorsitzender jetzt noch die Geschäfte. Jeden Vormittag sitzt er im Büro, wo sich Unterlagen in einer Obstkiste stapeln. Die Kammer repräsentiert Bescheidenheit.
Deutschland werden lernen, Reichtum teilen zu müssen
Aufgeregte Diskussionen wie jetzt um die vielen Flüchtlinge bringen Micksch nicht aus der Ruhe. Für ihn ist das die längst erwartete Globalisierung. "Flüchtlinge sind Botschafter für Veränderungen." So hat er den ersten Satz seiner zehn "Tutzinger Thesen" formuliert, die er zusammen mit der Asyl-Häuser-Idee zum "Tutzinger Impuls" kombiniert hat. Darin ist das Mickschsche Denken skizziert. Kriege vertreiben die Menschen ebenso wie Hunger und Armut; die Klimaerwärmung wird alles verschlimmern; und wenn Europa die Meere vor Afrika plündert, tut das das Übrige.
"Es wird Jahrzehnte dauern", sagt Micksch, "bis es zu einem Umdenken kommt. Deshalb ist die weitere Zunahme von Flüchtlingen absehbar." Die Einheimischen werden sich an sie gewöhnen. "Menschen lernen miteinander auszukommen." Dass sie schon so viel gelernt haben, dass die Hiesigen den Fremden nicht nur am Münchner Hauptbahnhof applaudieren, sondern sie im ganzen Land beherbergen und unterstützen, das überrascht selbst Micksch: "In dieser Intensität habe ich damit nicht gerechnet." Es müsse die Frucht jahrzehntelanger Arbeit der Asylszene sein, sagt er. Viele Bürger in unzähligen Gruppen hätten, fast unmerklich, dieses Willkommensklima geschaffen.
Micksch wirkt als Mediator zwischen Religion und Politik; er reicht Politikern einen ethischen Kompass. Jetzt treibt ihn der Rechtsextremismus um und der Islamhass. Und die Flüchtlingskrise? Gibt es die überhaupt? "Ich mache mir, ehrlich gesagt, keine großen Sorgen." Zu gefestigt sei Deutschland, als dass die Ankommenden die Gesellschaft ins Wanken bringen könnten. Verändern aber werde sich einiges: "Sie werden uns beibringen, dass wir unseren Reichtum teilen müssen."
Das sagt einer, dessen eigenes Leben mit Flucht begonnen hat. Mit Mutter, Schwester und Oma hat er 1945 als Vierjähriger das eingekesselte Breslau zu Fuß verlassen. Die Familie lebte im Freien auf einem Sportplatz, die Mutter schickte ihn zum Klauen ins eingezäunte russische Vorratslager. Später verschlug es die Familie nach München, wo der Vater seine Confisserie wieder aufmachte, noch mit 95 verkaufte er Pralinen.
Sohn Jürgen landete auf der Bühne. Ein Regisseur war ins Münchner Luitpold-Gymnasium gekommen, um Kinder für Peter Pan zu casten. Jürgen wurde zum Kinderstar, spielte mit Heinz Rühmann und Ingrid Bergman, auch im Film. Das Kind wurde älter, kam in den Stimmbruch und lernte das Bühnengeschäft neu kennen.
"In einer Welt, in der man nur zählt, wenn man funktioniert, will ich nicht leben", sagt er. Eher wollte er das Wesen der Welt verstehen lernen, studierte Theologie, promovierte in Soziologie, im Rat der EKD begann eine Protestantenkarriere. Und dann, 1984, Tutzing.
Im Grünen Salon des Schlosses, wo er schon mit dem Dalai Lama über die Welt nachdachte, mit Carl-Friedrich von Weizsäcker und Peter Sloterdijk, räsoniert Micksch über die Welt zum Jahreswechsel 2015/16. Anschläge wie in Paris "werden immer wieder geschehen", sagt er, "die werden noch vieles anstellen." Doch jetzt einfach nur Soldaten nach Syrien zu schicken, das sei bloß Aktionismus. Was es brauche, sei ein koordiniertes Handeln der Weltgemeinschaft, das ganz große Rad.
Asyl an Obst und Gemüse. Spinnerei? Oder Vision?
Weil das aber nie in Bewegung kommt ohne viele kleine Rädchen, dreht Jürgen Micksch weiter an seinem Ding. Zum Beispiel am Abrahamischen Forum, noch so ein Micksch-Ding. Drei Weltreligionen gehen auf Abraham zurück, da müssten die drei doch miteinander auskommen. Abrahamische Teams, bestehend aus Christen, Muslimen und Juden, sollen eine neue Form der politisch-religiösen Integration praktizieren und lehren.
Und da Jürgen Micksch gerne nachhaltig handelt, hat er sich noch ein neues Projekt ausgedacht: "Religionen für biologische Vielfalt." Alle Religionen rühmen den Wert der Natur - was läge da näher, als die Religionen für den Erhalt dieser Natur zu mobilisieren? Ein erstes Treffen hat Micksch Dialogforum genannt, ein typischer Begriff aus der Arbeitswelt dieses Finders und Fängers: Man redet miteinander, entwickelt Ideen und schickt sie auf die Reise. In diesem September soll erstmals eine religiöse Woche für den Naturschutz stattfinden, das Bundesumweltministerium finanziert das Projekt, Vertreter von neun Religionen haben einen Appell unterzeichnet.
Hier schließt sich der Kreis zum "Tutzinger Impuls". Frau Glatzel will auf den Grundstücken ihrer Asyl-Häuser auch Obst- und Gemüsegärten anlegen. Micksch hat einen Brief an die Bundesumweltministerin geschrieben und bittet um Unterstützung. Asyl an Obst und Gemüse. Spinnerei? Oder Vision? Micksch ist begeistert, aber auch ein wenig skeptisch, nicht alles wird schließlich ein Selbstläufer. Erst wenn es gelungen ist, freut er sich. Leise, aber nachhaltig.